Junge Erwachsene im Gymnasium Münchenstein (BL) sitzen auf Tischen und Stühlen und hören Charles Martin zu. Wie im Sommer 1968 die damalige Basler Kinder- und Jugendfürsorge ihn und seine Mutter abführte. «Keiner hat mir gesagt, was los ist. Ich wusste nur: Mein Leben endet hier.»
Charles ist damals sieben Jahre alt. Seine alleinerziehende Mutter leidet an Schizophrenie.
Es sei richtig gewesen, dass die Behörden eingegriffen hätten. «Nur, was danach folgte, war noch schlimmer.» Sie bringen Charles in ein Übergangsheim. «Ich konnte nicht aufhören zu weinen. Als es der Betreuerin zu viel wurde, riss sie mich am Arm über den Gang und stiess mich in eine Kammer. Mit hochrotem Kopf sagte sie: ‹Do chasch jetzt hüle› und knallte die Tür zu.»
Keiner hat mir gesagt, was los ist. Ich wusste nur: Mein Leben endet hier.
Martin ist ein Betroffener der sogenannten fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. Bis 1981 rissen Schweizer Behörden tausende von Familien auseinander.
Unter fadenscheinigen Begründungen nahmen sie armen Familien die Kinder weg. Auch alleinerziehende, ledige oder verwitwete Frauen und ihre Kinder gerieten in den Fokus. Minderjährige, schwangere Frauen kamen teils ins Gefängnis. Die Behörden übten Druck aus, dass die Frauen ihre Kinder zur Adoption freigaben.
Die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen hätten systematisch Menschen getroffen, die am Rand der Gesellschaft lebten. Die aus Sicht der Behörden kein «normales» Leben führten, erzählt Charles Martin der Klasse.
Gewalt im Heim
Die Behörden haben Hunderttausende von Menschen bevormundet. Männer und Frauen ohne Gerichtsurteil weggesperrt, in Anstalten eingewiesen, zu Zwangsarbeit gezwungen, zwangssterilisiert.
Das Ausmass an Gewalt, sexuellem Missbrauch und Willkür war enorm. «Diese Menschen, auch ich, waren der Staatsmacht ausgeliefert», so Martin. Später kommt er in ein Heim der Heilsarmee. Der Heimvater verprügelt die Kinder regelmässig mit dem Lederriemen.
Die Aufseherinnen stecken Charles stundenlang in eine dunkle Besenkammer. «Wir Kinder hatten so grosse Angst, dass wir Essen, das wieder hochgekommen ist, runterschluckten.» Die Betreuerinnen seien daneben gesessen und hätten die Bibel gelesen.
Die Schüler des Gymnasiums hören aufmerksam zu. Man sieht ihnen die Betroffenheit an. Die Gewalt sei nicht mal das Schlimmste gewesen, sondern die Kaltherzigkeit der Betreuerinnen, so der Zeitzeuge.
In den Akten steht ‹Der Patient ist gut versorgt›. Dabei hat nie jemand geschaut, wie es mir geht. Warum ich am ganzen Körper Striemen habe.
Rund zwei Jahre bleibt Charles Martin in diesem Heim. «Was damals geschah, hat mein Leben verkrüppelt.» Er erzählt den Schülerinnen, dass sein Schicksal und das hunderttausend Anderer kein persönliches Unglück ist, «sondern staatlich organisiertes Unrecht. Verantwortet haben das die Behörden. Es waren Respektspersonen, vor denen man den Kopf neigte. Der Herr Doktor, der Herr Pfarrer. Und die meisten haben mitgemacht.»
«Der Patient ist gut versorgt», steht in den kantonalen Akten. «Dabei hat nie jemand geschaut, wie es mir geht. Warum ich am ganzen Körper Striemen habe.»
Erinnern
Heute setzt sich Charles Martin dafür ein, dass dieses Kapitel Schweizer Geschichte nicht vergessen geht. Er geht in Schulen, trifft sich mit Bildungspolitikern. «Ich glaube an die Demokratie. Dass wir aus Fehlern lernen können. Dafür ist es aber wichtig, zu erinnern.»
Am Ende der Lektion bedankt sich eine Schülerin im Namen der Klasse bei Charles Martin. Alle schütteln ihm die Hand. Sichtlich bewegt und nachdenklich.