Am Strand liest es sich anders. Und dies schon deshalb, weil man am Strand ja fast nichts anderes tun kann als lesen. Man kann nicht stundenlang im Meer schwimmen, man kann nicht stundenlang an der Strandbar hängen, man kann nicht stundenlang den Windsurfern zusehen, man kann nicht stundenlang in den Sand starren. Aber man kann stundenlang lesen.
Am Strand liest es sich anders. Man sitzt nicht am Schreibtisch, man sitzt nicht im Kaffeehaus, man sitzt nicht in einer Bibliothek, man sitzt nicht in einem Büro.
Überall dort liest man auch, aber man liest streng ortsbezogen: Zeitungen im Kaffeehaus, Fachliteratur in der Bibliothek, Akten im Büro, Geschriebenes am Schreibtisch.
Lesen ohne Zeitdruck
Der Strand ist die Verheissung eines langen Lese-Atems. Man hat ja ansonsten dort nicht viel zu tun. Ein paar Mal ins Wasser, dazwischen ein Espresso und ansonsten: lesen.
Der Strand ist deshalb der Ort, an dem bislang unerfüllte Lesesehnsüchte in Erfüllung gehen können, an dem man sich in ein Buch endlich wieder einmal vertiefen kann, ohne Rücksicht auf die Welt.
Am Strand liest man deshalb aber auch all das, was man an den anderen Orten nicht lesen kann oder nicht lesen darf. Am Strand liest man das, was man immer schon lesen wollte, aber es sich aus unterschiedlichsten Gründen versagen musste. Und am Strand liest man das, für das man sich in jeder anderen Lesesituation genieren, zumindest entschuldigen müsste.
Am Strand ist alles erlaubt
Am Strand liest es sich anders. Freier. Ungezwungener. Weniger ernsthaft, auch dann, wenn man sich jenen grossen Brocken der Weltliteratur mitgenommen hat, mit dem man schon seit Jahren kokettiert, und für den man noch nie genügend Zeit gefunden hat.
Strandlektüre steht unter keinem Rechtfertigungszwang. Die Frage, was man denn an den Strand zum Lesen mitgenommen hätte, erlaubt jede Antwort. Das Stirnrunzeln, das Fragesteller bei anderen Gelegenheiten und an anderen Orten befällt, wenn man eine nicht standesgemässe Auskunft gibt, fällt in diesem Fall in der Regel weg.
Krimis und sogar Thriller!
Jeder hat oder heuchelt zumindest Verständnis dafür, dass man am Strand auch Bücher liest, die ansonsten als nicht satisfaktionsfähig gelten: Bestseller, Regionalkrimis, populäre Sachbücher, sogar politisch inkorrekte Texte, dann die sogenannte leichte Kost und vor allem: Thriller.
Letztgenanntes Genre bezeichnet ja jene paradoxe Form der Literatur, bei der mitreissende Spannung mit sprachlicher Inferiorität einhergehen kann. Dass die Zeit vor allem mit schlecht geschriebenen Büchern wie im Flug vergehen kann, gehört zu den selten diskutierten Erfahrungen solcher Sommer.
Die portable Bibliothek
Am Strand liest es sich anders. Lektüre kann hier auch in einer Datei bestehen. Am Strand ist der E-Reader erlaubt! Herrlich das Gefühl, sich nicht vor der Abreise einen Lektüreplan zusammenstellen zu müssen, sondern vor Ort souverän über das Universum der Texte verfügen zu können und sich jeden unmittelbaren Wunsch nach einem bestimmten Buch sofort erfüllen zu können.
Natürlich: Das Haptische fehlt und das Buch als individuelles Objekt verschwindet. Dafür rieselt aber der Sand nicht über die Blätter, die Sonne bleicht nicht das Papier und der Wind kann die Seiten nicht in verwehen. Die wirklich schönen Bücher hat man deshalb auch früher nicht an den Strand mitgenommen. Am Strand sonnt sich auch der Digitalskeptiker in den Strahlen des Fortschritts.
Am Strand liest es sich anders. Dass der Strand ein aussergewöhnlicher Leseort ist, blieb natürlich nicht verborgen. Regelmässig vor dem Sommer versorgen uns deshalb Feuilletonredaktoren und Kulturjournalisten mit Tipps für den Strand. An diesen Empfehlungen kann man ablesen, dass viele das Wesen der Strandlektüre verkennen.
Allein die Lust entscheidet
Entweder werden krampfhaft Bücher gesucht, die irgendetwas mit dem Sommer oder mit Reisen zu tun haben, andere gehören zur Rubrik beflissene Weiterbildung flexibler Ich-AGs, oder es sind jene unbekannten Texte unbekannter Autoren, die in erster Linie den ausgesuchten Geschmack des Redaktors dokumentieren sollen.
Man mag solchen Empfehlungen für den Strand folgen, kann sie aber auch getrost ignorieren. Mit dem Rauschen des Meeres im Ohr und dem heissen Sand neben sich, gilt einzig und allein das literarische Lustprinzip.
So wird die Strandlektüre zum Vorschein eines Glücks, das unerträglich wäre, würde es zum Bestandteil unseres Alltags. Zurück in der Bibliothek oder im Büro hören Bücher auf, reine Objekte unserer Begierde zu sein, sondern sie verwandeln sich wieder in die mahnenden Stimmen der Pflicht.