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Zehn Jahre #BlackLivesMatter
Aus Tagesschau vom 13.07.2023.
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Zehn Jahre Black Lives Matter Was hat die Protestbewegung in der Schweiz erreicht?

Seit zehn Jahren gehen Anhänger und Anhängerinnen der Black-Lives-Matter-Bewegung weltweit auf die Strasse – auch in der Schweiz. Drei Personen erzählen, was die Bewegung im Kampf gegen Rassismus hierzulande bewirken konnte und wo es noch harzt.

8 Minuten und 46 Sekunden – so lange dauerte der Todeskampf von George Floyd. Am 25. Mai 2020 kniete ein weisser Polizist bei einer Festnahme auf dem Afroamerikaner, der mehrmals flehte: «I can’t breathe!»

Ich kann nicht atmen. Dieser Satz bewegte den Schweizer Komponisten Charles Uzor zu seiner Komposition «8’46” – Floyd in memoriam». 8 Minuten und 46 Sekunden: ganz ohne Noten, nur mit dem Atem der Musizierenden.

Hinweis zur Schreibweise

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«Schwarz» wird in diesem Beitrag gross­geschrieben, um zu signalisieren, dass damit nicht die Bezeichnung einer Haut­farbe gemeint ist, sondern eine politische Selbstbe­zeichnung.

Floyds Tod ging um die Welt. Aktivisten und Aktivistinnen teilten in den sozialen Netzwerken Videos der brutalen Verhaftung in Minneapolis. Die deutlichste Antwort darauf war das Erstarken der Bewegung Black Lives Matter (BLM). Weltweit gingen Menschen auf die Strasse und demonstrierten gegen Rassismus und Polizeigewalt. So auch in der Schweiz.

«Wie das Herauskommen aus einer Gefangenschaft»

«Das war ein Happening, als auf den Demos so viele People of Color aller Generationen als Bewegung sichtbar waren», erinnert sich Yuvviki Dioh, Diversitätsagentin am Schauspielhaus Zürich. Für sie war es der Anfang einer aktivistischen Auseinandersetzung mit Rassismus in der Schweiz.

Yuvviki Dioh

Yuvviki Dioh

Diversitätsagentin am Schauspielhaus Zürich

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Yuvviki Dioh ist seit Februar 2022 als Agentin für Diversität am Schauspielhaus Zürich tätig. Davor war sie als Doktorandin am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich beschäftigt. Yuvviki arbeitet zu anti-rassistischen, queer-feministischen sowie macht- und gesellschaftskritischen Themen.

Pamela Ohene-Nyako, Historikerin und Gründerin der zweisprachigen Plattform Afrolitt’, die Literatur von Autorinnen und Autoren mit afrikanischem Hintergrund fördern will, spricht gar vom «Herauskommen aus einer Gefangenschaft». Die Bilder von George Floyds Tod verdeutlichten ihr «den Normalfall für Schwarze Menschen». Für viele war klar: «Wir wollen keine Rückkehr zur Normalität.»

Pamela Ohene-Nyako

Pamela Ohene-Nyako

Historikerin

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Pamela Ohene-Nyako setzt sich schon lange für die Rechte von People of Color in der Schweiz ein. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der afrodeszendenten Diaspora und Schwarzen Mobilisierungen in Europa.

Ohene-Nyako, die sich selbst schon lange antirassistisch in der Ostschweiz engagiert, empfindet Dankbarkeit gegenüber den Menschen und Gruppen, die damals in Zürich und anderswo mobilisierten. «Sie erinnerten uns daran, dass man nicht über Rassismus im Ausland sprechen kann, wenn man nicht über den Rassismus innerhalb der Schweiz spricht.»

Es begann mit einer Liebesbekundung

Ihren Anfang hatte die Protestbewegung 2013: Unter dem Hashtag #BlackLivesMatter teilte eine Aktivistin einen Text im Internet. Die Liebesbekundung an Schwarze Menschen entstand, nachdem ein Nachbarschaftswachmann, der den Afroamerikaner Trayvon Martin erschossen hatte, freigesprochen wurde.

Ein schwarze Frau steht auf der Bühne und spricht in ein Mikro.
Legende: Die Aktivistin und Autorin Alicia Garza war 2013 Mitbegründerin von Black Lives Matter. Nach der Tötung des Afroamerikaners Trayvon Martin verwendete sie den Begriff erstmals in der Öffentlichkeit – und trat damit eine Welle los. IMAGO / ZUMA Wire

Zehn Jahre besteht die vermutlich grösste Protestbewegung der US-amerikanischen Geschichte. Hat diese Dynamik auch den Kampf gegen Rassismus anderswo geprägt?

Mehr Engagement und Aufmerksamkeit

Charles Uzor überlegt. Der 62-Jährige ist in Nigeria geboren und kam mit sieben Jahren in die Schweiz. Bis heute lebt er in St. Gallen. «Black Lives Matter hat die Schweiz weniger betroffen», sagt er. «Aber ich bin sehr bürgerlich und gut integriert, wie man sagt. Ich nehme vieles nicht durch die Schwarze Haut wahr.»

Charles Uzor

Charles Uzor

Komponist

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Charles Uzor wurde in Udo Mbaise, in Nigeria geboren. Mit sieben, während des Biafrakriegs, kam er in die Schweiz. Nach seinem Schulabschluss studierte er in Rom Musik, anschliessend Oboe und Komposition an den Konservatorien von Bern und Zürich. 1990 erhielt Charles Uzor den Master in Komposition von der University of London. Er kehrte in die Schweiz zurück und dissertierte über Melodie und innerliches Zeitbewusstsein.

Vielleicht ist das ein Blick, der sich innerhalb der Generationen unterscheidet. Und nicht alle Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind, engagieren sich aktivistisch. Bei den Jüngeren ist die solidarische Perspektive sehr präsent, sagt die Zürcherin Yuvviki Dioh. «Auf Events gibt es ‹Safe Spaces› und ‹Awareness Teams› – viele sind sich der Verschränkung verschiedener Diskriminierungsformen bewusst.»

Ein Mann erhebt bei einer Demo die Hand zur Faust, dahinter schwingt die Schweizer-Flagge.
Legende: Von Genf bis St. Gallen: Die BLM-Demos fanden schweizweit statt. Die erhobene Faust, die auch auf vielen Transparenten zu sehen ist, steht für Solidarität, Stärke oder Widerstand. KEYSTONE/Jean-Christophe Bott

In der Ostschweiz hat Pamela Ohene-Nyako einen Wandel bemerkt: Neue Kollektive seien entstanden, die sich für Gerechtigkeit und Zugehörigkeit einsetzen. Menschen, die bereits aktiv waren und forschten, lenken nun den Blick auf die Schweizer Beteiligung am Kolonialismus. Auch ein grösseres Engagement seitens privater Unternehmen hat sie festgestellt. «Die haben sich gefragt: Was ist mit uns? Vielleicht sollten wir etwas tun.»

Kritik an amerikanischem Einfluss

Der Blick in die USA offenbart vielen People of Color in der Schweiz ein Paradoxon: Denn der bestärkende Einfluss aus den USA ist gleichzeitig ein Motiv für weiteren Rassismus in der Schweiz. Ohene-Nyako distanziert sich deswegen vom Begriff Black Lives Matter.

Fragt man Charles Uzor nach Black Lives Matter, dann denkt er zunächst an die USA. Der Komponist hat Freunde und Familie dort. Er liest die «New York Times» und schaut CNN. Auch als Schweizer Medien immer öfter über BLM berichteten, dachte er: «Für mich war das eine Sache, die Amerika betraf.»

Ein schwarzer Mann blickt nachdenklich. Seinen Kopf stützt er durch seine Hände. Er trägt einen schwarzen Pullover.
Legende: Charles Uzor floh 1968 vor dem Biafra Krieg in Nigeria. In seiner Musik zeigt er das Leben in «schönen und hässlichen Klängen». Charles Uzor

Ohene-Nyako, die an der Universität Genf zu Schwarzen Mobilisierungen in Europa forscht, hat eine Erklärung für diese Abgrenzung: «Manche Schweizer werfen uns vor, dass wir amerikanische Themen importieren. Wenn wir uns also in der Schweiz als Black Lives Matter bezeichnen, ist das für uns von Nachteil. Das ist auch Rassismus.»

Black Lives Matter: ein Phänomen des «Wokismus»?

«Der Vorwurf aus konservativen Lagern lautet: Black Lives Matter sei direkt übersetzt aus Amerika. Das haben wir hier gar nicht», sagt Yuvviki Dioh. Dass Rassismus hauptsächlich in den USA vorkommt und weniger in der Schweiz, ist ein Narrativ, das auch in der Debatte um «Wokismus» auftaucht.

Eine schwarze Frau mit einer schmalen, randlosen, rosa getönte  Brille. Sie lächelt und hält eine Hand nach oben
Legende: Yuvviki Dioh ist die erste Diversitätsagentin in der Schweiz. Die Black Lives Matter Proteste haben ihren Blick auf Aktivismus verändert. Teegeemotion

Tatsächlich verbreitete sich mit den BLM-Protesten auch der Hashtag #StayWoke (sei wachsam) in den sozialen Medien. Anfänglich erinnerten sich People of Color damit gegenseitig, sich ihrer Unterdrückung bewusst zu sein. Der Begriff schlug Purzelbäume, wurde zum Liebling der Popkultur und schliesslich zum Reizwort konservativer Kräfte.

Auch Pamela Ohene-Nyako wurde schon als «Wokist» bezeichnet. «Antirassisten weltweit verkörpern Cancel Culture und sind gegen Meinungsfreiheit. Das ist ein riesiger Rückschlag für uns.»

Struktureller Rassismus in der Schweiz

Man kann wohl behaupten, dass Menschen, die von Rassismus betroffen sind, kein Leben ohne Rückschläge führen können. Gibt es einen Vorstoss, folgt ein Rückschlag. «Der Prozess ist wahnsinnig zäh», sagt Dioh. Ganz zu schweigen von lebenslangen Traumata, die viele nicht mehr loslassen würden.

Auch wenn das Gegenüber eigentlich nichts für die Sklaverei kann, ist es verantwortlich für die Sklaverei.
Autor: Charles Uzor Komponist

Wenn Charles Uzor erzählt, wie er als 12-Jähriger in St. Gallen beim Schwarzfahren erwischt und blutig geschlagen wurde, während ringsherum die Menschen wegsahen, klingt das so, als ob es erst gestern gewesen war. «Ich spüre die Wut immer noch. Es ist etwas Anonymes gegen Schweizer und Weisse. Das ist auch ein Rassismus, der in mir steckt.»

Seine Aussage «Auch wenn das Gegenüber eigentlich nichts für die Sklaverei kann, ist es verantwortlich für die Sklaverei» betont den historischen Kontext. Eine der zermürbendsten Debatten für viele People of Color in der Schweiz ist wohl die über die strukturelle Dimension von Rassismus.

Erst Anfang dieses Jahres bestätigte eine Grundlagenstudie der Universität Neuenburg, dass auf dem Arbeitsmarkt sowie in den Behörden und bei der Einbürgerung Schwarze Menschen von rassistischer Diskriminierung betroffen sind.

Rückschläge bei Kolonialismus-Debatte

Die Frage, ob diskriminierende Inschriften im Zürcher Niederdorf bleiben dürfen oder nicht, hat Yuvviki Dioh in diesem Sommer sehr beschäftigt – auch wegen des grossen Widerstands. Ein Gericht entschied, dass die beiden Altstadthäuser zum historischen Bild der Limmatstadt gehörten und deshalb schützenswert sind. Eine kürzlich von der ETH Zürich veröffentlichte Studie hat die Hausinschriften klar als rassistisch eingeordnet.

Ein Geschäft im Zürcher Niederdörfli mit der Aufschrift «Zum Mohrenkopf»
Legende: Was tun? Die historische Aufschrift an einer Zürcher Hausmauer sorgt für Kopfzerbrechen. KEYSTONE/Ennio Leanza

Solche scharfen Debatten führen zu einer «kollektiven Müdigkeit», sagt Dioh. «Andauernd im Kampfmodus zu sein, ist einfach nicht nachhaltig.» Trotzdem sei eine Notwendigkeit gegeben, politisch aktiv zu werden.

Auch weil es, wie es Pamela Ohene-Nyako ausdrückt, «eine Dringlichkeit gibt, nicht im Kampf zu sterben».

Der Fall Mike Ben Peter

Mike Ben Peter starb im Februar 2018 in Lausanne kurz nach einer Drogenkontrolle, bei der Polizisten Reizgas einsetzten und mehrere Minuten auf ihm knieten. Im Juni dieses Jahres liess die Staatsanwaltschaft die Anklage wegen fahrlässiger Tötung fallen. Es habe keinen Zusammenhang zwischen Festnahme und Todesursache gegeben, so die Erklärung.

«Einige Leute sagen, dass Mike Ben Peter ein Dealer war und deswegen seinen Tod verdient hat. Diese Aussage habe ich nicht erfunden, sondern das haben sie tatsächlich so gesagt», erklärt Ohene-Nyako.

Müssen immer erst unsere Körper tot sein, dass wir über Missstände sprechen?
Autor: Yuvviki Dioh Diversitätsagentin

Anfangs 2022 attestierte eine Expertengruppe der UNO, die vor Ort die Situation von afrikanischstämmigen Menschen erforscht, der Schweizer Justiz und Polizei rassistisches Verhalten gegenüber People of Color.

Nach dem Urteil in Lausanne hinderten Aktivisten den Polizeichef am Verlassen des Gebäudes. Proteste werden laut, wenn jemand stirbt. Das zeigte kürzlich wieder der Fall des getöteten Nahel in Frankreich. Die mehrtätigen zum Teil gewaltvollen Proteste sorgten international für Aufsehen.

Brauchen Proteste tote Körper?

«Müssen immer erst unsere Körper leiden oder tot sein, dass wir über Missstände sprechen?», fragt Dioh. Diese Dynamik habe sich in den vergangenen zehn Jahren nicht verändert, ist sie sich sicher.

«Ich würde mir wünschen, dass es ein klares Verständnis dafür gibt, dass Rassismus auf bestimmte Art und Weise funktioniert, und dass der Tod ein Ausdruck davon ist», sagt Pamela Ohene-Nyako.

Eine schwarze Frau trägt kurze Haare, dunkelroten Lippenstift. und einen Nasenpiercing. Sie lächelt.
Legende: Pamela Ohene-Nyako setzt sich schon lange für die Rechte von People of Color in der Schweiz ein. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der afrodeszendenten Diaspora und Schwarzen Mobilisierungen in Europa. Ashley Moponda

Zwischen den vielen schlimmen Ereignissen müssten ihrer Meinung nach Verbindungen hergestellt werden. Aber: «Wir müssen Veränderungen als etwas begreifen, das wahrscheinlich sehr unangenehm sein wird», sagt Ohene-Nyako, «Das ist wie bei einer Therapie: Wenn man zur Therapie geht, fühlt man sich beim ersten Mal vielleicht nicht gut, aber man setzt den Prozess fort.»

Charles Uzor denkt an die kleine Schweiz, die zur Zeit einen Rechtsruck erlebt. Man spüre das bei Abstimmungen: Es sei wieder weniger möglich. «Man kann zwar sagen, das alles ist nicht so schlimm in der Schweiz, aber vielleicht ist es das ja am Ende doch.»

Community, Community, Community

Dass seit zehn Jahren weltweit Menschen mobilisiert werden, um für gleiche Rechte und gegen Rassismus einzutreten, zeigt wie stark die Community hinter Black Lives Matter und anderen Bewegungen von People of Color sind.

«Es ist auch eine Frage von mentaler Gesundheit», sagt Dioh. «Wir treffen uns als Community und erleben Freude. Ich erlebe ganz viel Schönes in unserem Bestreben.»

Sie feiern, was es bedeutet, Schwarz und schweizerisch zu sein.
Autor: Pamela Ohene-Nyako Wissenschaftlerin an der Uni Genf

Charles Uzor erinnert sich daran, als um das Jahr 2000 viele Menschen aus Nigeria in die Schweiz flüchteten und in St. Gallen ankamen. Er hat sie getroffen und sich vernetzt. Heute hat er mehr das Gefühl von «Vereinzelung» – man grüsst und trifft sich weniger. Gleichzeitig bekennt er: «Vielleicht bin ich auch anders, weil ich weniger Zugang habe. Ich bin viel in meinem Kämmerchen und komponiere.»

Dass sich Kollektive von Schwarzen Menschen in der Schweiz bilden ist für Ohene-Nyako ein Zeichen für Handlungsfähigkeit: «Menschen nehmen sich Zeit und Ressourcen, um sich selbst etwas Gutes zu tun. Denn: Wenn sie es nicht tun, wird es der Staat wahrscheinlich auch nicht.»

Und sie feiern. «Sie feiern, was es bedeutet, Schwarz und schweizerisch zu sein.»

SRF 1, Tagesschau, 13.07.2023, 19:30 Uhr

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