«Ich bin nur ein Werkzeug in einem grossen Ganzen», beschreibt Jean-Marc Gaillard bescheiden seinen Beruf, der eine Lebensaufgabe ist. Gaillard hält Tinguelys pflegeintensives Werk am Leben. Der gelernte Schlosser und Kunstschmied war einer der letzten Assistenten Tinguelys, hegt und pflegt dessen Kunstwerke seit fast 40 Jahren.
Heuer wäre Tinguely 100 Jahre alt geworden. Das Jubeljahr ist für Gaillard besonders arbeitsintensiv. Museen weltweit machen Ausstellungen und leihen dafür Werke aus. Schon im Januar muss die «Vache Suisse» für eine Reise vorbereitet werden. Der Kuhschädel mit Blumenkrone – eine Arbeit, die Tinguely 1990 schuf – muss für eine Ausstellung ins Lehmbruck-Museum nach Duisburg. Für den Transport muss sie rausgeputzt werden, mit allergrösster Sorgfalt.
Machen – pausenlos
Früher wäre man mit dem Werk wohl nicht so zimperlich umgegangen: «Tinguely würde seinen Augen nicht trauen», schmunzelt Gaillard, denn: «Man hätte den Schädel einfach mit Pressluft abgeblasen.»
Als Künstler gab Tinguely stets Vollgas, bis zu seinem frühen Tod mit 66 Jahren. «Er zündete die Kerze wirklich an beiden Enden an, damit sie heller leuchtete», beschreibt Gaillard Tinguelys Feuer.
Der Lebemann und Vollblutkünstler mit masslosem Antrieb inspirierte Gaillard: «Ich habe gelernt, ich selbst zu sein. Einfach zu machen.» Oft arbeitet der Konservator rund um die Uhr: «Mein Ziel ist es, dass Tinguelys Erbe noch mindestens 40 Jahre weiterlebt.»
Tinguelys Maschinen sind dem Tod geweiht. Jede Bewegung bedeutet Materialverschleiss. Selbst Eisen nutzt sich ab. Keilriemen und Gummizüge reiben sich auf, Motoren werden altersschwach. Tinguelys Kunstwerke zerstören sich langsam, aber sicher selbst.
Bewegung, Veränderung, Vergänglichkeit, Selbstzerstörung und Tod sind Themen, die Tinguely beschäftigten. In seinem «Manifest für Statik», das er 1959 verfasste, schreibt er: «Hört auf, der Veränderlichkeit zu widerstehen. Seid in der Zeit – seid statisch, seid statisch – mit der Bewegung.»
Wäre es also im Sinne des Künstlers, sein Erbe zu erhalten? «Er sagte zwar, seine Arbeit sei nur ‹Seich›. Aber ich glaube, er hatte die Hoffnung, dass sie bleibt.»
Schon als Kind ein Tüftler
Jean Tinguely, am 22. Mai 1925 in Freiburg geboren, wuchs in Basel als Einzelkind in einer konservativen katholischen Familie auf. Sein Elternhaus war für ihn eine Sackgasse. Schon früh rebellierte er und versuchte, sich aus dem strengen familiären Rahmen zu befreien.
Seine Befreiungsform: das Tüfteln. Schon als Kind war er kreativ und baute Maschinchen. 1941 begann er eine Lehre als Dekorateur beim Warenhaus Globus. Seine Schaufenster waren aussergewöhnliche Hingucker. Lehrling Tinguely tauchte aber oft zu spät auf und wurde bald fristlos entlassen. Seine Lehre beendete er dann bei einem selbstständigen Dekorateur.
Künstlerkarriere in Paris
Auf der Kunstgewerbe-Schule, wo er während und nach seiner Lehre Kurse besuchte, lernte er die Künstlerin Eva Aeppli kennen. Gemeinsam gingen sie 1952 nach Paris – bettelarm, aber reich an Ideen. Mit seinen Automaten und Drehskulpturen brachte er nach beschwerlichem Anfang den Kunstbetrieb in Bewegung, machte Alltägliches und scheinbaren Schrott zu Kunst.
Tinguelys Zeichenmaschinen, die «Méta-Matics», waren ein Aufreger. Sie brachten seine Karriere ins Rollen und stellten das Verhältnis von Mensch und Maschine auf den Kopf. Denn wer zeichnet hier: der Künstler, die Maschine oder der Besucher?
Mit seiner «Homage to New York» (1960) wurde Tinguely in der Kunstwelt gekrönt. Die «Machine-Suicide», wie man sie auch nennt, zerstörte sich während der Aufführung im Garten des Moma in New York in weniger als einer halben Stunde selbst. Selbstzerstörerische Kunst: eine Neuheit.
Die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern und Ingenieuren ist typisch für Tinguely. Das Verwenden von Schrott ist eine Kritik an der Konsum- und Wegwerfgesellschaft. Ernst gemeint, aber auch mit viel Witz.
Im Geiste Tinguelys
Ein Gemeinschaftswerk mit Geschichte ist auch die Geisterbahn, die zurzeit im Solitude-Park neben dem Tinguely-Museum in Basel steht. Die Wiener Prater-Bahn aus den 1930er-Jahren war jahrelang eine Attraktion auf der Basler Herbstmesse. Zu Ehren von Tinguely wurde sie nun von der britischen Künstlerin Rebecca Moss und dem Schweizer Künstler Augustin Rebetez umgestaltet.
Die Auffrischung ist von Tinguely inspiriert. Gemeinsam mit seiner zweiten Ehefrau Niki de Saint Phalle und den Künstlern Bernhard Luginbühl und Daniel Spoerri baute dieser nämlich zur Eröffnung des Centre Pompidou 1977 eine Geisterbahn: «Le Crocrodrome» – ein Spuk-Spass als Kunstinstallation für Gross und Klein. Die neu gestaltete Prater-Bahn ist nun ein posthumes Geburtstagsgeschenk für Tinguely in seinem Geist.
Rebecca Moss, die Tinguelys Werk im Studium am Royal College of Art in London kennenlernte, fühlte sich sofort verbunden mit dem Künstler: «Ich mag es, wenn Dinge ineffizient, leicht ausser Kontrolle und chaotisch sind.» Und sie möge den Humor, der in Tinguelys Werken mitschwinge.
Werke von Tinguely: eine kleine Auswahl
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Bild 1 von 4. «Heureka», eine Arbeit, die Tinguely für die Landesausstellung in Lausanne kreierte. Die Arbeit machte ihn in der Schweiz bekannt, heute steht sie in Zürich. Bildquelle: Keystone / Michael Buholzer.
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Bild 2 von 4. Die «Fontaine Stravinsky» (1983) beim Centre Pompidou in Paris gestaltete er zusammen Niki de Saint Phalle. Bildquelle: Getty Images / Barbara Alper.
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Bild 3 von 4. Der «Mengele-Totentanz»: Ein Werk über Zerstörung, Vergänglichkeit und Vernichtung aus dem Jahr 1986. Bildquelle: Keystone / Georgios Kefalas.
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Bild 4 von 4. Die «Grosse Méta-Maxi-Maxi-Utopia» (1987), eine riesige kinetische Skulptur, ist im Tinguely-Museum ausgestellt. Bildquelle: Keystone / Georgios Kefalas.
Mit viel (britischem) Humor und neuen Gruselelementen hat Moss die Geisterbahn zusammen mit Augustin Rebetez umgestaltet. Rebetez hat Respekt für Tinguelys Arbeit, sein legendärer «Mengele-Totentanz» habe ihn umgehauen.
Tinguelys Einfluss auf ihn sei aber begrenzt: «Ich beeinflusse mich vor allem selbst», sagt der Romand selbstbewusst. Und trotzdem: «Tinguely ist wie eine Art Zombie aus dem Jenseits, der in der Geisterbahn irgendwie rumgeistert.»
«Ein volles Vorbild» ist Jean Tinguely immer noch für Konservator Jean-Marc Gaillard. «Er war gescheit, grosszügig, umtriebig. Ein guter Mensch, auch wenn er kein Heiliger war.»
Als Hüter des Tinguely-Grals hat Gaillard noch viel vor. Mit rund 1500 Werken, die Tinguely geschaffen hat, wird seine Arbeit wohl nie enden.