Wie gelingt ein Leben mit dem Wolf? Das ist aktuell eine der grössten Fragen für die Schweizer Berglandwirtschaft.
Aion, eine historische Alp an der östlichen Flanke des Calancatals im Süden des Kantons Graubünden – scheint eine Antwort gefunden zu haben. Zumindest bisher.
Denn trotz steigender Wolfsvorkommen haben die gegenwärtigen Älpler, Sergio Losa und sein Sohn Marco, keine Tierrisse zu vermelden: dank ständiger Anwesenheit von Hirt, Hund und Elektrozaunanlagen.
Beispiel für das Zusammenleben mit dem Wolf
«Heute haben wir Zäune mit Gittern unter sehr hoher Spannung. Der Aufbau bedeutet viel Arbeit, aber man muss sich anpassen», erklärt Sergio Losa. «Früher sprach man nicht von Zäunen, aber jetzt, mit dem Wolf, ist es eben so.»
Die stromführenden Netzzäune sind rund 1.50 Meter hoch. Sie umspannen zwei Berghütten, einen Stall und eine mobile Nachtunterkunft. Diese werden zusätzlich auch täglich von professionellen Hirten und einem ausgebildeten Herdenschutzhund bewacht.
Beim Aufbau dieses Abschreckungssystems wurden Sergio und Marco Losa unterstützt von der Stiftung Bergwaldprojekt. Seit 2017 ist das System im Einsatz.
Eine Geschichte der Wiederbelebung
Zwischen Juni und September beherbergt die Alp Aion 200 Ziegen, 25 Schafe und zwei Esel von verschiedenen Landwirten aus Graubünden und dem Tessin. Etwa die Hälfte der Tiere wird mit Transportern aus dem Tessin ins Calancatal gebracht.
«Ich bringe meine Walliser Ziegen nach Calanca, weil sie 800 Franken pro Stück kosten und ich es leid bin, dieses Geld dem Wolf zu schenken: Ich glaube, dass sie in Aion sicherer sind», sagt Giacomo Martinetti, Landwirt aus Brione Sopra Minusio. «Im Calancatal gibt es weniger Risse als im Wallis, im Tessin oder in anderen Teilen Graubündens.»
«Meiner Meinung nach ist das Zusammenleben zwischen Ziegen, Schafen und Wolf möglich, sofern die Bewirtschaftung richtig gemacht wird», ergänzt Marco Losa.
Die Sicht des Bergwaldprojekts
Das Bergwaldprojekt ist eine gemeinnützige Stiftung mit Sitz in Trin (Graubünden), die seit 1987 in verschiedenen Bergregionen den Schutz und die nachhaltige Bewirtschaftung von Bergwäldern und Kulturlandschaften fördert.
Die RTS-Reportage vor Ort (mit deutschen Untertiteln):
«Mit dem Wolf zu leben, ist machbar, das Problem ist lösbar», versichert Riccardo Siller, Leiter des Bergwaldprojekts: «Wir praktizieren das hier. Und wenn Tessiner Landwirte ihre Tiere hierherbringen, dann deshalb, weil sie wissen, dass unser System funktioniert. Als Forstingenieur bin ich froh, dass der Wolf da ist, wegen der Probleme, die das Wild im Wald verursacht.» In diesem Kontext leisteten die Wölfe gute Arbeit. Sie sorgen dafür, dass die Wildpopulation nicht zu gross wird.
«Man muss ein Gleichgewicht finden. Natürlich richtet der Wolf auch Schaden an, aber aus ökologischer Sicht ist es richtig, dass er da ist», betont Siller.