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75 Jahre nach Hiroshima Atomwaffen als Lebensversicherung in einer Welt voller Misstrauen

75 Jahre nach den ersten beiden Atombomben-Angriffen der Geschichte – jenen der USA gegen Japan am Ende des Zweiten Weltkriegs – erscheint die Hoffnung auf eine atomwaffenfreie Welt so realitätsfern wie selten zuvor.

Zwar gibt es heute viel weniger atomare Sprengköpfe als noch Mitte der 1980er-Jahre auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion. Damals wurde die Zahl der Atomsprengköpfe auf 70’000 geschätzt, heute dürften es nur noch knapp 14'000 sein.

Doch die Verbreitung von Atomwaffen hat zugenommen. Neben den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs – USA, Russland, Frankreich, Grossbritannien und China – sind im Laufe der Jahrzehnte vier weitere Staaten dazugekommen: Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea. Auch dem Iran und Saudi-Arabien werden atomare Ambitionen nachgesagt.

Wachsendes Misstrauen

Vor allem aber werden die Atomwaffenarsenale moderner: Treffsichere, rasch einsetzbare Waffensysteme mit einer geografisch begrenzten Wirkung sollen die unpräzisen Monsterwaffen aus der Zeit des Kalten Krieges ablösen. Doch damit droht auch die Hemmschwelle für einen Ersteinsatz zu sinken – das Schreckensszenario einer atomaren Eskalation wird wieder wahrscheinlicher.

Das liegt zum einen an den zunehmenden Spannungen und dem wachsenden Misstrauen zwischen den grossen militärischen Machtblöcken China, Russland und den USA. China verfügt zwar derzeit noch über ein vergleichsweise kleines Atomwaffenarsenal, rüstet aber auf.

Zum anderen sind Atomwaffen mehr denn je eine «Lebensversicherung» für kleinere Militärmächte und für Diktatoren. Kein Wunder: Der libysche Diktator Muammar al-Gaddafi hatte sein Atomwaffenprogramm aufgegeben – und wurde später gestürzt, auch mithilfe der USA und anderer westlicher Staaten.

Daraus haben andere Diktatoren ihre Lehren gezogen, etwa der «Oberste Führer» Nordkoreas, Kim Jong-un. Das nordkoreanische Atomwaffenarsenal sichert Kims Macht im Innern und schreckt potenzielle Angreifer ab.

Zahnlose internationale Verträge

Zwar verpflichtet der Atomwaffen-Sperrvertrag von 1968 die Unterzeichnerstaaten zur «vollständigen Abrüstung» – denn mit Atomwaffen kann ein Grundprinzip des humanitären Völkerrechts kaum eingehalten werden: die Unterscheidung zwischen militärischen Zielen und Zivilisten.

Doch weder die USA, Russland noch China haben sich jemals ernsthaft bemüht, den Vertragstext umzusetzen. Indien, Pakistan und Israel sind dem Sperrvertrag gar nicht erst beigetreten und Nordkorea ist 2003 wieder ausgetreten.

Ein weiter gehender Vertrag – der sogenannte Atomwaffen-Verbotsvertrag von 2017 – ist mangels interessierter Staaten noch immer nicht in Kraft getreten. Kontroll- und Beschränkung-Abkommen, namentlich zwischen den USA und Russland, werden gekündigt oder infrage gestellt.

Denn solange auch bloss ein einziger Staat einen einzigen Atomsprengkopf besitzt, werden andere Staaten ebenfalls Atomwaffen besitzen wollen – als tödliche Lebensversicherung in einer Welt voller Misstrauen.

Sebastian Ramspeck

Internationaler Korrespondent

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Sebastian Ramspeck ist internationaler Korrespondent für SRF. Zuvor war er Korrespondent in Brüssel und arbeitete als Wirtschaftsreporter für das Nachrichtenmagazin «10vor10». Ramspeck studierte Internationale Beziehungen am Graduate Institute in Genf.

Hier finden Sie weitere Artikel von Sebastian Ramspeck und Informationen zu seiner Person.

Tagesschau, 06.08.2020, 19:30 Uhr

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