Die Journalistin Inna Hartwich hat Russland verlassen. In einem öffentlichen Abschiedsbrief hat sie ihre Gefühle dem Land gegenüber beschrieben. Der Brief offenbart gewissermassen eine Art Hassliebe. Hier spricht sie darüber, was sie veranlasst hat, wegzugehen und diesen Brief zu verfassen.
SRF News: Warum war es Ihnen wichtig, öffentlich Abschied von Russland zu nehmen?
Inna Hartwich: Ich wollte Russland unbedingt sagen, was mich all diese Jahre beschäftigt, verletzt, enttäuscht, und wütend gemacht hat. Die russische Gesellschaft ist sehr schweigsam geworden in den Kriegsjahren. Meine Fragen konnten deshalb sozusagen nicht direkt bei den Leuten platziert werden.
Was ist Ihre wichtigste Botschaft in diesem Brief?
Dass mir das Land trotz allem wichtig ist.
Warum haben Sie sich nach all der Zeit entschieden, jetzt zu gehen?
Es waren sehr viele Ereignisse, Erlebnisse, Erfahrungen, Überlegungen, Anspannungen, Belastungen. Irgendwann hat man mal entschieden, dass es ein guter Zeitpunkt ist, um zu gehen und sich selbst und auch seinem Kind ein Leben zu bieten, das mir Freude bereitet.
Es geht auch um Einsamkeit, weil viele Freunde, Bekannte und Kollegen das Land verlassen haben.
Man musste praktisch jede Reise genau durchdenken, man musste manche Reisen auch mit Anwälten besprechen. Zum einen geht es auch um die Einsamkeit, weil viele Freunde, Bekannte und Kollegen das Land verlassen haben und man sich nur noch im engsten Familienkreis austauschen kann. Und zum anderen hat man eine kleine Tochter, die immer mehr versteht, die sich Sorgen macht um ihre Eltern. Wir sind beide Journalisten. Unsere Tochter hatte Angst, dass wir festgenommen werden, dass wir ausgewiesen werden könnten.
Hat diese Anspannung etwas mit Ihnen gemacht?
Ich glaube schon. Zum einen verspannt es die Muskeln. Aber es macht auch sonst was mit einem, weil man gelernt hat, bestimmte Themen irgendwie zu umschiffen. Das merke ich auch jetzt, da ich nicht mehr in Russland bin, sondern in der Schweiz lebe. Ich zucke zusammen, wenn ich an einer Rutschbahn vorbeigehe, die in den ukrainischen Nationalfarben angestrichen ist. In Russland konnte man dafür in den Knast kommen.
Sie schreiben von einem geliebten, aber abstossenden Land. Wie geht es Ihnen mit dieser Zerrissenheit?
Nicht gut. Ich befinde mich in einer Art Trauerphase, weil ich Russland und auch die Arbeit dort, die mir sehr viel Spass machte, grundsätzlich verloren habe.
Sind Sie noch in Kontakt mit Leuten in Russland?
Ja. Ich habe Freunde dort, auch russische Freunde. Gerade um diese mache ich mir grosse Sorgen. Sie verstehen, was ihr Land dem eigenen Volk und vor allem der Ukraine antut. Und die journalistischen Freunde haben mit all dem zu kämpfen, mit dem ich auch zu tun hatte, wie alle drei Monate das Visum verlängern und mit immer wieder neuen Gesetzen, die das Leben erschweren.
Unmittelbar wünsche ich den Leuten, dass sie das Thema Krieg in der Ukraine nicht vollkommen abspalten.
Was wünschen Sie Russland, dem Land und den Leuten?
Dass sie sich den staatlichen Verbrechen stellen, früheren staatlichen Verbrechen und auch den jetzigen. Und unmittelbar wünsche ich den Leuten, dass sie das Thema Krieg in der Ukraine nicht vollkommen abspalten, dass sie sich bewusst werden, was auch in ihrem Namen geschieht. Aber das ist sehr schwierig in einem Land, das sich immer mehr zu einer Diktatur entwickelt.
Das Gespräch führte Reena Thelly.