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Abstimmung in Russland «Man darf die Wahrheit nicht mehr sagen»

Russland lässt über eine neue Verfassung abstimmen: Viele Russen sind dafür – und wer dagegen ist, hält sich bedeckt.

Das Wahllokal Nummer 81 ist im «Haus des Kinos» untergebracht, einer altehrwürdigen Moskauer Kulturinstitution. Moskau ist aus der Corona-Quarantäne erwacht und geschäftig wie eh und je. Auch im Wahllokal selbst ist etwas los.

Eine junge Frau misst mit einem elektronischen Fiebermesser die Temperatur. Die Abstimmung über die neue russische Verfassung soll Corona-sicher über die Bühne gehen. Auf einem langen Tisch liegen Gesichtsmasken und Handschuhe kostenlos zur Verfügung.

«Eine Million Preise – Dein Sieg»

Auch eine Broschüre bietet eine Wahlhelferin an: «Eine Million Preise – Dein Sieg», steht drauf. Jede Wählerin, jeder Wähler darf an einer Lotterie teilnehmen. Zu gewinnen gibt es Restaurant-Gutscheine, Kino-Billette und dergleichen.

Eine behördliche Massnahme, um die Wahlbeteiligung anzukurbeln. Nein, fair ist diese Abstimmung nicht. Der Staat hat seine ganzen Ressourcen eingeschaltet, um die Verfassungsänderung durchzubringen.

Frau an Urne.
Legende: Die Verfassungsänderung hat auch viele Befürworter. Keystone

Das heisst aber nicht, dass das Projekt nicht auch Unterstützer hat. Er habe mit Ja gestimmt, sagt ein junger Mann. «Ich bin einverstanden mit der Richtung, in die sich unser Land entwickelt. Klar, es gibt Probleme. Aber insgesamt finde ich alles gut.»

Verfassungsabstimmung hat viele Unterstützer

Die Verfassungsvorlage sieht Dutzende Änderungen vor. So soll der Staat künftig höhere Renten und Löhne garantieren, der Tierschutz soll gestärkt und das Gesundheitswesen verbessert werden.

Wir hatten genug Schlechtes in unserem Land – in den 90er-Jahren.
Autor: Russin

Vor allem aber bekommt Wladimir Putin das Recht bis 2036 weiterzuregieren. Der junge Mann meint: «Mir gefallen alle Änderungen. Und was Putin betrifft: Man sollte die Person an der Spitze des Landes nicht überbewerten. Nicht er allein entscheidet, ob es Russland gut oder schlecht geht.»

Auch zahlreiche andere Wählerinnen und Wähler äussern sich für die Verfassungsänderung. Eine ältere Frau sagt: «Wenn diese Verfassung zu einer Verbesserung des Lebens führt, bin ich dafür. Wir hatten genug Schlechtes in unserem Land in den 90er-Jahren.»

Mann an Urne.
Legende: Viele Russinnen und Russen wollen aus Angst vor Repression nicht über ihr Abstimmungsverhalten sprechen. Keystone

Die Frau spricht an, was wohl viele Russen denken: Putin hat dem Land eine gewisse Stabilität gebracht. Und Stabilität ist keine Selbstverständlichkeit gewesen in der russischen Geschichte.

Man darf die Wahrheit nicht mehr sagen in unserem Land.
Autor: Russe

Jedoch längst nicht alle denken so: Eine Gruppe junger Leute um die 30 will erst nicht sagen, wie sie zur Verfassung stehen. Dann tröpfeln die Meinungen doch. «Da ist viel Unnötiges drin in dieser Vorlage», sagt einer. «Kein Mensch braucht diese Reform», fügt ein anderer an. Und eine Frau sagt schliesslich: «Die ältere Generation ist sich gewöhnt, der Regierung zu glauben. Wir sind da anders.»

Viele Manipulationen beobachtet

Es ist die Kehrseite der «putinschen Stabilität», dass sich viele inzwischen fürchten, offen über Politik zu reden, mit dem Namen hinzustehen. «Man darf die Wahrheit nicht mehr sagen in unserem Land», sagt ein Mann, der am Wahllokal vorbeigeht. «Sonst landest Du schnell im Gefängnis – oder ‹Piffpaff›» – er formt die Hand zu einer Pistole.

Bereits gibt es Meldungen von Staatsangestellten, die gezwungen werden, an der Abstimmung teilzunehmen. Die unabhängigen Wahlbeobachter der Nichtregierungsorganisation «Golos» sagen, so viel wie dieses Mal sei schon lange nicht mehr manipuliert worden.

Präsident Putin dagegen erklärte jüngst, es sei wichtig, dass das Abstimmungsergebnis absolut glaubwürdig und legitim sei. Druck auszuüben auf Wähler sei unzulässig.

Echo der Zeit, 25.6.2020, 18:00 Uhr

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