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Afghanen erreichen die USA Wo sich das Gefühl der Erleichterung und des Verrats vermischen

Am Flughafen in Dulles bei Washington kommen täglich mehrere tausende Flüchtlinge aus Afghanistan an. Ein Augenschein.

Am Terminal von Dulles prallen Welten aufeinander. Touristen und Touristinnen schieben ihre schicken Rollkoffer durch die Halle. Sie kreuzen den Weg der Flüchtlinge aus Afghanistan, die ihre Habseligkeiten in Plastiktüten und lädierten Handtaschen zum Ausgang tragen, wo Busse auf sie warten.

Es ist ein steter Fluss von Frauen mit Babys auf dem Arm, alleinreisenden Teenagern, ganzen Familienverbänden. Die meisten sprechen kein Englisch.

Am Anfang eines neuen Lebens

Aber alle verstehen das Wort «Welcome» – und die Erleichterung ist vielen ins Gesicht geschrieben, endlich sicher anzukommen. Für diesen etwa dreissigjährigen Mann und seine zwei Kollegen dauerte die Reise nach Dulles, im Bundesstaat Virginia, elf Tage. Es sei sehr hart gewesen in Kabul. «Die Taliban, die Taliban sind gekommen», sagt er, und bricht im Satz ab.

Flüchtlinge besteigen einen Bus
Legende: 120'000 afghanische Flüchtlinge wurden aus Kabul ausgeflogen. Über 20'000 sind bisher in den USA gelandet – gezeichnet von der hektischen und gefährlichen Flucht aus der afghanischen Hauptstadt. SRF/Isabelle Jacobi

Eine Sicherheitsbeamtin sitzt vor einer abgesperrten Zone bei den Check-In-Schaltern der Fluggesellschaft Emirates. Die Flüchtlinge müssten zuerst durch den Zoll wie alle Reisenden, dann würden sie hier auf Covid getestet, sagt sie.

Diejenigen, die bereits eine Unterkunft hätten, könnten weiterreisen. Alle anderen würden mit den Bussen in eine nahegelegene Konferenzhalle gefahren, wo sie eine Covid-Impfung erhalten und danach provisorisch auf drei Militärstützpunkte verteilt werden. Dort helfen ihnen karitative Organisationen, sich in den USA anzusiedeln und Arbeit zu finden.

Warum habt ihr Amerikaner uns nicht beschützt? Wir sagten doch, wir sind Verbündete, dass wir uns gegenseitig beschützen. Und ihr habt uns im Stich gelassen, als uns der Feind angriff.
Autor: Geflüchteter Afghane

Doch zuerst müssen die Afghanen und Afghaninnen in Dulles durch die Grenzkontrolle, wie alle Einreisenden, und das kann Stunden dauern. Obwohl sie ausserhalb der USA geprüft wurden und bereits eine Einreisebewilligung erhalten haben, als Mitarbeitende einer US-Organisation oder weil sie Familie in den USA haben.

Koffer und Plastiksäcke
Legende: Habseligkeiten, die rasch in Koffer und Plastiksäcke verpackt wurden: Inmitten des Gewusels an Geschäftsreisenden und Touristen lässt sich die dramatische Flucht der Menschen aus Afghanistan erahnen. SRF/Isabelle Jacobi

In der Ankunftshalle warten Angehörige auf ihre geflüchteten Verwandten aus Kabul, wie Mohammed. Der ältere Herr im Anzug ist da, um seine Frau nach Hause zu bringen. Sie lebten vier Jahre getrennt – die Frau in Kabul, er in den USA. Nun bringt sie die Not wieder zusammen. Vor einer Hintertür der Zollbehörde fallen sich Menschen in die Arme, Tränen fliessen.

«Meine Schwägerin und mein Schwager haben es geschafft», sagt der Mann mit geröteten Augen. Daneben steht John – er will seinen afghanischen Namen nicht nennen, weil seine Mutter noch in Afghanistan lebt. Der ehemalige Übersetzer wartet mit seiner amerikanischen Frau auf seine jüngeren Geschwister.

Ankunft mit gebrochenem Herzen

Er freue sich, sie zu treffen nach sieben Jahren. Sie seien nun schon Teenager. Gleichzeitig sei sein Herz gebrochen. Und er schleudert die Frage hinaus: «Warum habt ihr Amerikaner uns nicht beschützt? Wir sagten doch, wir sind Verbündete, dass wir uns gegenseitig beschützen. Und ihr habt uns im Stich gelassen, als uns der Feind angriff.»

Und so mischen sich am Flughafen in Dulles die Gefühle – Gefühle der Erleichterung, aber auch des bitteren Verrats.

Echo der Zeit, 31.08.2021, 18 Uhr

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