Zum Inhalt springen

Ende des Afghanistan-Einsatzes Nato: Ohne die Amerikaner geht wenig bis nichts

Die letzten Evakuierungsflüge haben Kabul verlassen. Die Bitten des Nato-Generalsekretärs, der Briten, der Deutschen und anderer Europäer, den Einsatz noch ein wenig zu verlängern, erhörte Joe Biden nicht. Genauso wie die Amerikaner ohne jegliche Konsultation mit den Europäern die Beendigung der Militäroperationen in Afghanistan beschlossen. «Gemeinsam rein, gemeinsam raus», lautete das Motto. Eine leere Floskel.

Doch wenn sich jetzt genau dieselben Leute und Organisationen über den abrupten Rückzug der US-Streitkräfte empören, die nun jahrelang deren Tun in Afghanistan aufs Schärfste kritisiert haben, dann wirkt das etwas schizophren. Europa musste, bei nüchterner Betrachtung, längst bewusst sein, dass Washington keinen Nutzen mehr sieht in einem Verbleiben am Hindukusch.

Zu bescheiden die amerikanischen Interessen, zu gross der Aufwand, zu schwach die Unterstützung in der Öffentlichkeit. Und vor allem: Keine Aussicht, im 21. oder im 25. Jahr in Afghanistan zu erreichen, was man in zwei Jahrzehnten nicht geschafft hat. Den Aufbau eines stabilen Staates.

Es fehlt an fast allem

Von vornherein war indes klar: Allein konnten die Europäer die Mission unmöglich fortsetzen. Sie sind, ohne die Amerikaner, gar ausserstande, den Flughafen Kabul noch etwas länger zu verteidigen. Es fehlen kampferprobte Truppen, Spezialkräfte, Militärtransportkapazitäten, Kampfdrohnen, Luftwaffenbasen in der Region und eine europäische Kommandozentrale für Ferneinsätze. Also fast alles.

Das zeigt sich immer wieder: Schon beim Nato-Einsatz 2011, als sich die Amerikaner im Hintergrund hielten, ging den Europäern rasch der Schnauf aus. Im Sahel gelangen sie derzeit an ihre Grenzen. Und wenn jene Nato-Staaten, die sich vor Russland fürchten, also Polen oder das Baltikum, Bündnissolidarität einfordern, dann meinen sie damit, dass die US-Streitkräfte Truppen stationieren, nicht die europäischen Nachbarn.

«Natiönli-Geist» in der Nato

Das Problem ist nicht in erster Linie, dass die Europäer zu wenig Geld ausgeben – selbst wenn die Amerikaner tatsächlich pro Kopf der Bevölkerung weitaus mehr in die Verteidigung stecken. Das Problem ist, dass die europäischen Armeen weiterhin mehrheitlich auf die Landesverteidigung ausgerichtet sind, nicht auf die Durchsetzung gemeinsamer Ziele.

Will heissen: Jede europäische Nation macht ein bisschen alles, mässig koordiniert und im Ergebnis mit geringerer Schlagkraft, als mit den eingesetzten Mitteln möglich wäre. Man erlaubte sich das, weil man weiss: Für die grossen Herausforderungen können wir ja auf die USA zählen. Bloss sind diese inzwischen ihrer undankbaren Weltpolizisten-Rolle überdrüssig.

Grundsatz-Debatte beginnt von Neuem

Seit Jahren, ja Jahrzehnten wird diskutiert und gefordert, Europa müsse sich notfalls auch ohne die USA verteidigen können. Der europäische Pfeiler der Nato müsse stärker werden und allein aufrecht stehen können. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron predigt die «strategische Autonomie» Europas.

Das unrühmliche Ende der Afghanistan-Operation befeuert solche Debatten neu. Passieren wird auch diesmal wenig. Die EU ist noch längst keine aussen- und sicherheitspolitische Gemeinschaft.

Fredy Gsteiger

Diplomatischer Korrespondent

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Fredy Gsteiger ist diplomatischer Korrespondent und stellvertretender Chefredaktor bei Radio SRF. Vor seiner Radiotätigkeit war er Auslandredaktor beim «St. Galler Tagblatt», Nahost-Redaktor und Paris-Korrespondent der «Zeit» sowie Chefredaktor der «Weltwoche».

Hier finden Sie weitere Artikel von Fredy Gsteiger.

Echo der Zeit, 30.08.2021, 18 Uhr

Meistgelesene Artikel