In Russland ist beinahe jede öffentliche Kritik an Wladimir Putins Herrschaft verstummt. Doch Andersdenkende sind nicht ganz in den Untergrund verschwunden, wie ein Besuch in einem Moskauer Quartiertreff zeigt. Drinnen gibt es Kaffee und Tee, junge und alte Menschen sitzen an grossen Tischen, auf denen Papierstapel und Farbstifte liegen.
In diesen unscheinbaren Ort stürmte vor zwei Jahren eine Spezialeinheit der Polizei. «Alle mussten mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegen», erzählt eine Frau, die wir Darina nennen. «Der Boden war kalt, unter uns waren viele ältere Menschen, und wir mussten anderthalb Stunden so liegen bleiben. Da wird man ziemlich verspannt, das kann ich Ihnen sagen», sagt sie.
Am Ende liessen die Polizisten in schwerer Montur alle Anwesenden gehen. Sie hatten nichts Illegales getan: nur Briefe an politische Gefangene geschrieben. Dazu haben sie sich auch heute versammelt. «Ich schreibe gerade einem Alexander», sagt der 68-jährige Wladimir. Von Alexander wisse er nur, dass er im Gefängnis sitze und Unterstützung brauche: «Ich schreibe ihm einen Neujahrsgruss und wünsche ihm, dass er bald freikommt und dass er gesund bleibt.»
Für Menschenrechtsorganisationen sind Alexander und bis zu 7000 weitere Menschen in Russland politische Häftlinge. Die Zahl ist seit dem Angriff auf die Ukraine rasant gestiegen.
Unter ihnen sind viele Ukrainerinnen und Ukrainer, aber auch Russinnen und Russen, die etwa wegen kritischer Posts in den sozialen Medien verhaftet wurden, welche von den Behörden als «Diskreditierung der russischen Streitkräfte» oder «Rechtfertigung des Terrorismus» ausgelegt wurden.
Aus Sicht des Kremls gibt es in Russland natürlich keine ‹politischen Gefangenen›.
«Aus Sicht des Kremls gibt es in Russland natürlich keine ‹politischen Gefangenen›», sagt Darina, die die Briefaktion organisiert hat. «Aber aus Sicht der Gefängnisbehörden schon: Ukrainer oder Andersdenkende leben dort unter schlimmsten Bedingungen, werden teilweise geschlagen. Man behandelt sie anders als andere Häftlinge.»
Mut machen und Grenzen ausloten
Briefe zum Geburtstag oder Silvester sollen nicht nur den Gefangenen Mut machen. Die Aktion helfe auch den Schreibenden, sagt Sascha, die den Quartiertreff mitleitet. Politischen Aktivismus gebe es in Russland an sich nicht mehr. Aber die Leute seien noch da.
Und sie wollten noch irgendetwas unternehmen, auch wenn es nur was Kleines ist wie Briefe schreiben: «Man versucht immer, die Grenzen auszuloten – was man tun darf und was nicht», ergänzt sie.
Die Polizei war mehrmals hier, und wir wurden immer wieder freigelassen. Aber jedes Mal fragst du dich, ob du auch diesmal freikommst.
Was von der prodemokratischen, russischen Zivilgesellschaft geblieben ist, existiert nur noch in dieser Grauzone – wo Regierungskritik nie direkt ist und heikle Themen wie der Krieg nicht angetastet werden. Bei aller Vorsicht sei die Angst vor einer Verhaftung allgegenwärtig, so Sascha.
«Die Polizei war mehrmals hier, und wir wurden immer wieder freigelassen. Aber jedes Mal fragst du dich, ob du auch diesmal freikommst.» Die letzte Razzia sei schon länger her. «Vielleicht war es den Polizisten peinlich, als sie da die ganzen harmlosen alten Leute und Jugendliche sahen. Ich hoffe es jedenfalls.»
Rentner Wladimir hat noch einen Weg gefunden, verhaftete Andersdenkende zu unterstützen: Er besucht Gerichtsverhandlungen. Das sei wie mit den Briefen – um den Leuten zu zeigen, dass sie nicht allein sind. Mit dem fortschreitenden Alter schaffe er es aber nicht mehr an alle Prozesse: «Ich besuche immer weniger – aber Prozesse gibt es immer mehr.»