Vor zwei Jahren begann Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Damals protestierten Tausende Russinnen und Russen. Doch die Proteste wurden schnell erstickt. Mit der verschärften Repression macht sich ein Gefühl der Hilflosigkeit breit.
Seit Februar 2022 sind Hunderttausende Regimekritikerinnen und -kritiker aus Russland ausgereist. Doch noch mehr sind geblieben. Weil ihnen das Geld fehlt. Oder weil sie ihre Angehörigen nicht zurücklassen wollen und sich ein neues Leben Exil nicht vorstellen können.
Es ist wie in einem abstürzenden Flugzeug. Wir können nichts Anderes tun als uns festhalten.
Mascha, Dozentin an einer Moskauer Universität, ist gegen den Krieg in der Ukraine. Sie tritt wie alle anderen Menschen im Beitrag unter einem Pseudonym auf, denn ihre Ansichten gelten ihn Russland als Verbrechen. Sie umschreibt die Lage mit einem abstürzenden Flugzeug, wo sich alle Passagiere nur noch festhalten können.
Gewöhnung an den Krieg
«Wir fühlen uns sehr alleine», ergänzt der 27-jährige Psychologiestudent Wassilij. Der Staat vermittle gezielt die Botschaft, dass alle für den Krieg seien – um glauben zu machen, dass Widerstand zwecklos sei. Am Anfang konnte er nicht glauben, was passiert. Dann sei er wütend geworden und habe sich von der Regierung verraten gefühlt: «Später habe ich mich beruhigt und so gut wie möglich an den Krieg gewöhnt.»
Heute glauben nur noch Idioten, dass sie etwas verändern können.
Wie viele Menschen mittlerweile schweigen, lässt sich nicht genau beziffern. Aber es ist eine ausgegrenzte Minderheit. Zu dieser zählt sich auch die 25-jährige Historikerin Ksenia, die schon als Teenager an Protesten teilgenommen hatte: Zu Beginn des Ukraine-Kriegs war sie während mehrerer Abende auf der Strasse, wurde zusammen mit Freunden verhaftet.
Heute hätten Proteste keinen Sinn mehr, sagt Ksenia: «Heute glauben nur noch Idioten, dass sie etwas verändern können.» Auch sie habe früher für Veränderung in der apathischen russischen Gesellschaft gekämpft. Doch der innere Antrieb sei der inneren Emigration gewichen, dem stillen Protest von Andersdenkenden in einem Polizeistaat.
Wie Wassilij hat auch Ksenia längst aufgehört, die Nachrichten zu lesen. Dozentin Mascha verfolgt das politische Geschehen weiterhin, auch wenn es sehr belastend sei: «Es geschehen schreckliche Dinge, die früher einzeln in die Geschichte eingegangen wären. Heute sind es so viele an einem Tag, dass sie zu einem einzigen, schrecklichen Lärm geworden sind.»
Abschottung als Reaktion
Mascha schützt sich zwar nicht vor belastenden Informationen, aber von anderen Meinungen. Viele blieben in ihrer regimekritischen Blase, sagt sie. Sie selbst diskutiere nicht mehr mit Befürwortern des Krieges. Wenn sie jemanden kennenlerne, beginne jeweils ein vorsichtiges Ratespiel – um die politische Meinung des Gegenübers auszuloten.
Historikerin Ksenia geht mit der Belastung anders um. Im lebhaften Moskau lenkt sie sich in Bars und an Kunstveranstaltungen ab. «Ich will ein erfülltes und gesundes Leben leben und ein Gefühl der Freiheit in mir aufbauen», sagt sie. Durch Realitätsflucht sei das möglich.
Der Gedanke an die Zeit nach dem Krieg
Machen es sich die Kriegsgegnerinnen in Moskau zu einfach? «Selbst wenn ich mich auf dem Roten Platz anzünden würde, würde es nichts ändern», entgegnet Mascha.
Wenn alles vorbei ist, werden mein Land, ich und auch meine Kinder die Verbrechen von heute verantworten müssen.
Trotzdem fühlt sie sich schuldig und glaubt an eine «historische, kollektive Schuld» ihres Landes: «Wenn alles vorbei ist, werden mein Land, ich und auch meine Kinder die Verbrechen von heute verantworten müssen.»