Israel steht nach dem Überraschungsangriff unter Schock und hat der radikalislamischen Palästinenserorganisation Hamas im Gazastreifen den Krieg erklärt. Die Luftschläge halten an und eine baldige Bodenoffensive wird erwartet. Die Hamas geniesse mangels jeglicher Friedensperspektive und einer schwachen Autonomiebehörde mittlerweile eine grosse Unterstützung in der Bevölkerung, sagt Nahostexpertin Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP.
SRF News: Wie konnte die Hamas so stark werden, um Israel so heftig und so überraschend anzugreifen?
Muriel Asseburg: Die Hamas ist tatsächlich sehr stark geworden. Dafür gibt es drei Gründe: Die Organisation hat sehr grosse Unterstützung in der Bevölkerung, weil die Palästinenserinnen und Palästinenser aufgrund der festgefahrenen Situation kaum mehr eine Alternative zum bewaffneten Kampf sehen. Ihnen fehlt jegliche Friedens- oder Konfliktregelungsperspektive. Dazu kommt, dass es in den letzten Monaten eine starke und enge Abstimmung mit Hisbollah und dem Iran gegeben hat.
Und schliesslich hat die Hamas ihre Fähigkeiten zur Waffenproduktion weiterentwickelt. Zunehmend sind auch Waffen in den Gazastreifen geschmuggelt worden. Es ist tatsächlich erstaunlich, dass Israel mit so hervorragenden Geheimdienstkapazitäten und technischen Möglichkeiten das anscheinend nicht mitbekommen hat.
Hat sich die Bevölkerung im Gazastreifen radikalisiert?
Umfragen in den palästinensischen Gebieten zeigen, dass immer mehr Palästinenserinnen und Palästinenser den bewaffneten Kampf befürworten, weil sie dazu keine Alternativen mehr sehen. Sie betrachten den Konflikt mit Israel als Nullsummenspiel und beanspruchen letztlich das ganze Land für sich. Mit dem gleichen Ziel hat eine Radikalisierung auf israelischer Seite stattgefunden. Auch dort beansprucht das Gros der Bevölkerung das ganze Land für sich.
In Israel wird auch über ein Versagen der Sicherheitskräfte diskutiert. Ist Israel für das Erstarken der Hamas mitverantwortlich?
Es gibt zwei Hauptpunkte: Zum einen hatte man seit dem letzten bewaffneten Konflikt 2021 in Israel das Gefühl, man habe mit der Hamas eine Art Stillhalteabkommen getroffen. Die Hamas mischte sich in die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Israel und dem islamischen Dschihad nicht ein. Israel fokussierte zugleich stark auf die Westbank und Ostjerusalem und trieb das Siedlungsprojekt voran. Militärische Kapazitäten wurden gegen die neuen bewaffneten Gruppierungen in der Westbank eingesetzt.
Was ist derzeit das grosse Ziel der Hamas?
Die Hamas will sich zum einen innenpolitisch im innerpalästinensischen Machtkampf positionieren. Als Kraft, die den bewaffneten Kampf in die Hand nimmt und nicht mehr Opfer ist. Damit unterscheidet sie sich fundamental von der palästinensischen Autonomiebehörde. Sie wird von vielen Palästinenserinnen und Palästinensern als Erfüllungsgehilfin der Besatzung wahrgenommen und hat deshalb sehr stark an Legitimität und Popularität verloren. Dazu gibt es sicher die Motivation, Bewegung in die seit 17 Jahren bestehende Blockade im Gazastreifen zu bringen, wo die wirtschaftliche und humanitäre Lage immer schwieriger geworden ist.
Das Gespräch führte Zoe Geissler.