Nach dem Attentat am Bondi Beach sitzt der Schock in Australien tief. Dort schossen am Sonntag zwei Attentäter auf Teilnehmende einer jüdischen Chanukka-Feier. Mindestens 16 Personen wurden getötet und rund 40 verletzt. Wie die Stimmung vor Ort ist, weiss der Korrespondent für Down Under, Urs Wälterlin.
Wie ist derzeit die Stimmung in Sydney?
Bedrückt. Das ist das erste Wort, welches mir einfällt. Ich würde aber noch weiter gehen: Ich habe das Gefühl, dieses Verbrechen hat die Lebensfreude, die Leichtigkeit aus dieser Stadt gesaugt, in ein Vakuum voller Traurigkeit und Fassungslosigkeit. Wenn man in Sydney normalweise einkauft oder in ein Kaffee geht, kommt man recht schnell mit anderen Leuten ins Gespräch. Das war diesmal überhaupt nicht so. Seit 33 Jahre wohne ich in diesem Land und ein Jahrzehnt davon in Sydney. Das, was ich in den Tagen nach der Tat gesehen und gespürt habe, das ist nicht mein Sydney.
Vor einem Monat wurde ein Bericht über antisemitische Vorfälle in Australien veröffentlicht. Was ist dazu bekannt?
Noch nicht viel. Der Bericht liegt noch bei der Regierung zur Umsetzung von Massnahmen gegen den eskalierenden Antisemitismus. Das solche Fälle zugenommen haben, ist unbestritten. Laut offiziellen Statistiken ist die Zahl antijüdischer Übergriffe seit Beginn des Gazakriegs um 738 Prozent auf über 2000 Übergriffe gestiegen. Dazu gehören Brandanschläge auf Synagogen, Graffiti-Schmierereien sowie Anpöbeleien gegen jüdische Menschen. Auch die gemeldeten Fälle von Islamophobie haben in derselben Zeit deutlich zugelegt – um bis zu 600 Prozent auf über 900 Übergriffe. Jüdische Organisationen hatten seit Monaten vor einer Eskalation gewarnt. Sie hatten leider recht.
Was wird der australischen Regierung vorgeworfen?
Es sind harte Vorwürfe. Sie habe antisemitische Übergriffe nicht ernst genommen. Sie habe weggeschaut. Sie sei terroristenfreundlich und israelfeindlich. Plakate an Strassenlaternen zeigen Premierminister Anthony Albanese mit blutverschmierten Händen. Hier muss man aber sagen, dass der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Öl ins Feuer gegossen hat. Vor ein paar Tagen warf er Albanese vor, indirekt für dieses Verbrechen verantwortlich zu sein. Australiens Unterstützung für einen palästinensischen Staat schüre den Judenhass, meinte Netanjahu. Das ist sicher kein berechtigter Vorwurf. Australien hat sich mit seiner jüngsten Forderung in eine lange Reihe von Ländern gestellt, die dasselbe wollen. Zudem hat Albanese eine Sondergesandte für Antisemitismus ernannt und diesen besagten Bericht in Auftrag gegeben.
Weshalb stehen die Polizei und der Geheimdienst in der Kritik?
Die Emotionen sind zeitweise hochgekocht. Als in Bondi Beach die Schüsse fielen, war die Polizei laut den Behörden nicht zurückhaltend. Es kann sein, dass zu wenige Polizisten dort waren. Dieses Sicherheitsdispositiv wird jetzt von den Behörden sicherlich überarbeitet. Etwas mehr Kritik verdient hat wahrscheinlich Australiens Inlandgeheimdienst Asio. Der 24-jährige Sohn aus diesem Vater-Sohn-Terroristenteam war offenbar bereits als 16-Jähriger wegen seiner Nähe zu einem prominenten Prediger vom Geheimdienst überwacht worden. Damals habe Asio aber keinen Handlungsbedarf gesehen, heisst es. Dass sein Vater aber gleichzeitig sechs Schusswaffen erwerben konnte und, laut Berichten, niemand in den Sicherheitsorganisationen einen Zusammenhang erkannt habe, wird jetzt kritisiert. Ob eine Untersuchung das bestätigt, bleibt eine offene Frage.