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Aufruhr in Israel Die Justizreform ist vertagt, der Kulturkampf nicht

Mit der Entlassung seines Verteidigungsministers am Sonntag hat Premier Benjamin Netanjahu die grössten Proteste in der Geschichte Israels ausgelöst. Selbst Israelis, welche hinter der Regierung standen, waren konsterniert. Verteidigungsminister Yoav Galant hatte doch nur seine Pflicht getan – er hatte seinen Chef vor einer drohenden Gefahr fürs Land gewarnt. Die Proteste gegen die Justizreform führten zu Dienstverweigerung und spalteten die Armee.  

Erst als Gewerkschaften zum Generalstreik aufriefen, den Ben-Gurion-Flughafen lahmlegten und das Land im Chaos zu versinken drohte, lenkte Netanjahu ein. Er vertagte das umstrittene Gesetzespaket, mit dem seine rechts-religiöse Parlamentsmehrheit faktisch die Kontrolle über die – in der Tat reformbedürftige – Justiz übernehmen wollte.

Netanjahus fatales Bündnis mit den Hardlinern

In seiner Rede ans Volk verglich er den Streit um die Justizreform mit dem biblischen Streit zweier Frauen um ein Kind: Jede behauptet, sie sei die leibliche Mutter, bis König Salomo vorschlägt, das Kind mit seinem Schwert zu teilen, damit jede Frau eine Hälfte bekomme. Eine der beiden Frauen ist bereit, den Tod des Kindes in Kauf zu nehmen, die andere hingegen will, dass es lebt. Netanjahu bezichtigt «eine kleine, extreme Minderheit» der Bereitschaft, Israel in Stücke zu reissen. Er meint die Gegnerschaft seiner Justizreform.

Nur: Im Grunde genommen geht es gar nicht nur um die Justizreform. Wäre das der Fall, hätte sich seine Regierung auf einen Kompromiss eingelassen: die Macht des höchsten Gerichts beschränken, aber nicht totale politische Kontrolle über die Justiz. Ginge es Netanjahu ernsthaft um eine ausgeglichenere Gewaltenteilung für sein Land, hätte er sich nicht auf eine so einseitige Regierung eingelassen.

Zwei Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber

Seine Minister vertreten ein ultra-religiöses, extrem rechtes und intolerantes Weltbild. Netanjahu, zu seinen besten Zeiten als Staatsmann, war nie so religiös und rechts wie seine Minister. Diese sind gegen alles Weltoffene und weniger Religiöse in Israel, sie sind voller Hass, sie rufen in einer aufgeheizten Stimmung sogar zu Gegendemonstrationen auf und nehmen damit bürgerkriegsähnliche Gewalt in Kauf. Sie sind bereit, das Kind aus der Geschichte von König Salomo zu zerschneiden. Und eine knappe Mehrheit der israelischen Bevölkerung hat diese Politiker gewählt.

Demokratieverständnis weltweit unter Druck

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Die USA, Israels bester Freund und Geldgeber, zeigten sich besorgt über Benjamin Netanjahus neue Regierung. Präsident Joe Biden fürchtet, dass die rechtsextremen Politiker die Situation in den besetzten Palästinensergebieten zum Explodieren bringen könnten. Das ist allerdings längst passiert. Seit Februar erlebt Israel Terroranschläge wie seit Jahren nicht mehr und reagiert darauf mit einer Anti-Terror-Kampagne, die Hass, Wut und Verzweiflung in den besetzten Gebieten noch mehr schürt.

Auch wenn der jahrzehntealte Nahostkonflikt nur noch selten in den Schlagzeilen ist: Aus diesem ist Israels neue extreme Regierung entstanden. Sie ist zudem auch ein Zeichen der Zeit, wie die USA und viele andere Länder wissen. In diesem Sinne ist Israel nicht anders als andere Länder, die sich als Demokratien verstehen. Mit dem Finger auf Israel zu zeigen wegen seiner extremen neuen Regierung, ist deshalb nicht angebracht. Das Demokratie-Verständnis steht weltweit unter Druck. Israel ist dafür nur ein weiteres Beispiel.

Der in der Regierung nicht vertretene Teil der Bevölkerung will ein anderes Israel. Und darum geht es. Um nichts weniger als um die Frage: Wie soll dieser jüdische Staat, der in diesem Jahr sein 75-jähriges Bestehen feiert, aussehen? Die israelische Gesellschaft steckt in einem fundamentalen Kulturkampf. Die Justizreform ist nur das Mittel, mit dem eine Seite der anderen ihr Weltbild aufzwingen will.

Susanne Brunner

Leiterin Auslandredaktion

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Susanne Brunner war für SRF zwischen 2018 und 2022 als Korrespondentin im Nahen Osten tätig. Sie wuchs in Kanada, Schottland, Deutschland und in der Schweiz auf. In Ottawa studierte sie Journalismus. Bei Radio SRF war sie zuerst Redaktorin und Moderatorin bei SRF 3. Dann ging sie als Korrespondentin nach San Francisco und war nach ihrer Rückkehr Korrespondentin in der Westschweiz. Sie moderierte auch das «Tagesgespräch» von Radio SRF 1. Seit September 2022 ist sie Leiterin der Auslandredaktion von Radio SRF.

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Heute Morgen, 28.03.2023, 6 Uhr

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