80 ist die magische Zahl. Wenn 80 Prozent der Erwachsenen in einem australischen Bundesstaat voll geimpft seien, werde Australien seine Grenzen öffnen. Das gab Premierminister Scott Morrison jüngst bekannt.
Das dürfte im November der Fall sein – mit Sydney als erstem Flughafen, der dann wieder den Vollbetrieb aufnehmen könnte. Dann sollten stufenweise auch die strikten Bedingungen für Ankommende aufgehoben werden – allem voran die 14-tägige Pflichtquarantäne in einem Hotel, die jeden Reisenden umgerechnet rund 2500 Franken kostet.
Gestrandete «Expats» sollen Vorrang haben
Kaum lief die Meldung von der Lockerung Anfang Oktober über die Nachrichtenagenturen, riefen auch in der Schweiz Reiseveranstalter ihre Kunden zum Buchen einer Australienreise auf. Wer allerdings glaubt, schon bald Kängurus in freier Natur sehen zu können, ist mehr als optimistisch.
Denn zuerst sollen die Grenzen für Australier und Daueraufenthalter geöffnet werden, unter ihnen 38'000 «Expats», die seit der Schliessung der Grenze im März 2020 im Ausland gestrandet sind.
Es sind Familien, Geschäftsleute und junge Australier, die ein sogenanntes «Gap Year» zwischen Schule und Universität in Europa verbrachten. Für viele Betroffene hat das lange Warten schwere Folgen, wie Beiträge in sozialen Medien zeigen.
Psychisch angeschlagen
Einigen geht die Trennung von Heimat und Familie psychisch an die Substanz. Depressionen seien unter den Gestrandeten epidemisch, warnen Experten. Finanzielle Probleme haben einige an den Rand der Armut gebracht.
Viele Betroffene waren im März letzten Jahres einem Aufruf Canberras zur sofortigen Heimkehr gefolgt. Sie hatten ihre Stelle im Ausland gekündigt und die Wohnung aufgegeben. Sie befanden sich buchstäblich auf dem Weg zum Flughafen, als Australien seine Grenzen schloss.
Sie werden es der Regierung Morrison nie verzeichen, wie sie im Stich gelassen worden sind.
Sonderflüge für viele zu teuer
Der australische Reisejournalist Ben Groundwater lamentiert, die Zurückgebliebenen würden es der Regierung Morrison niemals verzeihen, wie sie von ihr «im Stich gelassen» worden seien. Sie hätten entdeckt, dass es «zwei Arten von Staatsbürgerschaft» gebe: eine für Australier zuhause und eine für die Gestrandeten.
Zwar hatte Canberra im Verlauf der letzten Monate eine Reihe von Sonderflügen organisiert. Die meisten Betroffenen bleiben aber bis heute ihrem Schicksal überlassen. Tausende können es sich nicht leisten, einen der knapp über 3000 Sitzplätze nach Australien zu ergattern, die pro Woche von Fluglinien verkauft werden.
Das ist die Zahl der Passagiere, die Australien derzeit ins Land lässt, um so die Ausbreitung des Coronavirus eindämmen zu können. Da die Airlines ihre Maschinen nicht füllen können, geben sie Passagieren der First- und Business-Klasse den Vorzug. Wer ein Economy-Ticket hat, bleibt auf der Warteliste.
Kein Recht auf Aus- und Einreisen
Die Lage der Gestrandeten wird durch das Gesetz erschwert. Denn australische Staatsbürger hätten aus juristischer Sicht kein Recht auf Heimkehr, erklärt der Verfassungsrechtler Ron Levy von der Nationaluniversität ANU in Canberra gegenüber SRF. Experten hätten zwar argumentiert, eine Staatsbürgerschaft «impliziere sozusagen ein Recht aufs Aus- und Einreisen». Das höchste Gericht stimme dem aber nicht zu.
Zumindest in der Theorie können die Gestrandeten zwar heimkehren – es ist unwahrscheinlich, dass sie an der Grenze zurückgewiesen werden. Die Begrenzung der Passagierzahlen funktioniert jedoch in der Praxis als Einreiseverbot.
Geschäftsleute, Filmstars, Sportler und TV-Persönlichkeiten können kommen und gehen, wie sie wollen.
Ausreisen dagegen ist ausdrücklich verboten. Eine Ausnahmebewilligung erteilt das Innenministerium nur selten. Wer die sterbende Mutter in Europa noch einmal sehen will, braucht Zeugnisse ihrer behandelnden Ärzte und muss ein Flugticket vorweisen – und hat trotzdem keine Garantie, die Bewilligung zur Ausreise zu erhalten.
Groundwater kritisiert, dass Geschäftsleute, Filmstars, Sportler und TV-Persönlichkeiten dagegen kommen und gehen könnten.
Kritiker haben Australien wegen seiner harten Linie im Kampf gegen Covid-19 auch schon als «Nordkorea des Pazifiks» bezeichnet. Tatsächlich hat kaum ein Land der westlichen Welt die Rechte seiner Bürgerinnen und Bürger derart beschnitten.
Verfassung erlaubt harte Linie
Das Recht auf freie Bewegung gilt als fundamentales Menschenrecht. Die Verfassung ermöglicht aber die harte Linie. Laut dem Experten Levy hat «Australien im Gegensatz zu den meisten vergleichbaren Ländern keine im Grundgesetz verankerten Menschenrechte, also eine sogenannte ‹Bill of Rights›».
Australien im Gegensatz zu den meisten vergleichbaren Ländern keine im Grundgesetz verankerten Menschenrechte.
Es gebe in der Verfassung zwar einige Rechte, welche die Handlungsfreiheit der Regierung gegenüber dem Volk in Schranken halten sollen, so Levy. Aber diese Rechte seien von den Gerichten nie wirklich bestätigt oder durchgesetzt worden.
Trotzdem seien Australier bereit, solidarisch solche Einschränkungen mitzutragen, wenn sie im öffentlichen Interesse liegen, glaubt Levy. In anderen Ländern werde stärker auf individuelle Rechte gepocht.
Zudem beweise der Antipoden-Kontinent mit seinen im internationalen Vergleich niedrigen Infektions- und Todeszahlen, dass eine Inselnation das Eindringen von Covid-19 durch Abschottung reduzieren könne: «Deshalb ist es unter dem Strich die Unbequemlichkeiten wert», folgert Levy.