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Bekannter Putin-Kritiker Kaminer: «Der kleine Mann im Kreml will die Weltherrschaft»

Wladimir Kaminer, Bestsellerautor und bekannter Putin-Kritiker, erklärt, wie er die aktuelle Situation in Russland wahrnimmt.

Wladimir Kaminer beobachtet seine Landsleute aus der Aussenperspektive. Seit 30 Jahren lebt er in Berlin. Er hat sich als populärer Russlanderklärer etabliert. Mit Humor und Sprachwitz schildert er seine Beobachtungen und scheut sich nicht, auch über das Böse zu lachen. Er schildert, wie er momentan auf sein Ursprungsland blickt.

Wladimir Kaminer

Schriftsteller und Kolumnist

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Wladimir Kaminer ist ein russisch-deutscher Schriftsteller und Kolumnist. Er ist in Moskau aufgewachsen und lebt seit 1990 in Berlin. Er schrieb zahlreiche Besteller, unter anderem die Erzählsammlung «Russendisko».

SRF News: Wie würden Sie den gegenwärtigen Zustand Russlands beschreiben?

Wladimir Kaminer: Das Land ist wie hypnotisiert. Die Menschen scheinen in Trance zu sein, als würden sie schlafwandeln.

Verdrängt die Bevölkerung die aktuelle Situation?

Die Menschen versuchen, im Alltag abzuschalten und nicht über den Krieg zu sprechen. Wenn ich mit meiner Familie telefoniere, unterbrechen sie mich, sobald ich politisch werde, und fangen an, über das Wetter zu reden. Die Menschen in Russland sind grösstenteils keine Kriegstreiber. Sie sitzen in einem Boot und haben keinen Zugang zur Kajüte des Kapitäns. Sie können nicht mitbestimmen, wohin das Boot fährt und was auf sie zukommt. Deshalb versuchen sie, abzuschalten.

Hat diese kollektive Realitätsverweigerung Auswirkungen auf die Seele der Gesellschaft?

Die Unzufriedenheit wie auch die Abneigung gegen den Krieg sind spürbar. Das russische Regime hat in den letzten Tagen eine deutliche Ohrfeige bekommen. Die Beerdigung von Nawalny hat die Menschen mobilisiert, sie standen Schlange, um zum Friedhof zu gelangen, obwohl die Polizei vor Ort war.

Wenn ich mit meiner Familie telefoniere, unterbrechen sie mich, sobald ich politisch werde, und fangen an, über das Wetter zu reden.

Das Regime muss mit Ausschreitungen gerechnet haben. Anders kann ich mir die Scharfschützen auf den Dächern nicht erklären. Eine absurde Situation; auf wen wollten die schiessen? Die Angst scheint im Kreml grösser zu sein als der gesunde Menschenverstand.

Der russischen Regierung ist es gelungen, ein Gespräch zwischen hochrangigen Offizieren über die Strategie im Ukraine-Krieg abzuhören. Wie ordnen Sie das ein?

Für mich ist diese Geschichte sinnbildlich für die politische Starre, in der sich Deutschland derzeit befindet. Die Idee einer Ampelregierung mag gut sein, aber in der Realität scheint sie nicht regierungsfähig zu sein. Sie ist meiner Meinung nach auch zur falschen Zeit mit der falschen Agenda an die Macht gekommen. Sie wollten den Klimawandel bekämpfen, sie wollten Radwege bauen. Statt Fahrrädern müssen sie jetzt Panzer fahren, und das können sie nicht. Aber sie haben nicht den Mut, das zuzugeben. Diese Ohnmacht, diese Starre, das war auch in diesen Gesprächen zu spüren.

Sie nehmen in Ihren Büchern oft eine humoristische Perspektive ein. Werden dadurch wichtige gesellschaftliche Themen zu oberflächlich behandelt?

Das Böse muss ausgelacht werden. Der kleine Mann im Kreml, der die Welt beherrschen will, ist eine Witzfigur. Im Russischen haben wir das Bild der «Garagenrentner». Das sind ehemalige Stasi-Mitarbeiter, die zu früh in Rente geschickt wurden. Die Langeweile treibt sie dazu, sich hinter dem Garagentor ein kleines Imperium aufzubauen und sich dort irgendwelche Dinge zusammen zu spinnen. Das Problem ist, dass diese «Garagenrentner» jetzt im Kreml sitzen. Sie haben die Macht und das ist tragisch.

Aus dem Tagesgespräch mit David Karasek, Mitarbeit Géraldine Jäggi.

SRF 4 News, 05.03.2024, 13:30 Uhr ; 

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