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Biden im Weissen Haus Traum und Wahrheit in Washington

Der 78-jährige neue US-Präsident hat viel vor. Joe Biden will die Seele Amerikas retten. Er will eine gespaltene Nation einen. Er fordert Toleranz statt Hass auf Andersdenkende; Bescheidenheit statt Rechthaberei; Wahrheit statt Verschwörungstheorien. Er will eine gerechtere Gesellschaft. Leichter gesagt als getan. Und vor allem: Wie setzt man das politisch um?

Joe Biden bleibt nur ein kleines Zeitfenster für seine grossen Vorhaben. Die Demokraten sitzen zwar an den Schalthebeln der Macht, doch ihre Mehrheit in den Parlamentskammern ist dünn, sehr dünn. Die Chancen sind gross, dass die Republikaner in zwei Jahren die Mehrheit in einer Kammer zurückgewinnen. Und im Obersten Gericht haben bereits die Konservativen das Sagen.

Wichtige erste 100 Tage

Joe Biden weiss, dass er keine Zeit hat, Zeit zu verlieren. Um effizient zu sein, muss er eigentlich innert hundert Tagen seine politischen Prioritäten aufgegleist haben. Sonst droht er ausgebremst zu werden, wie einst Barack Obama. Und deshalb ist Joe Bidens Regierung in Startposition – «We are ready to hit the ground running», betonte das Biden-Team in den letzten Wochen immer wieder.

Der Sprint beginnt per sofort. In den kommenden Tagen unterschreibt Biden einen ganzen Strauss wohlklingender Verordnungen, zur Rettung des Klimas, zur Bekämpfung des Rassismus. Doch wichtiger sind seine massiven Gesetzes-Projekte. Das 1.9 Billionen Dollar schwere Corona-Hilfspaket ist viel mehr als ein Pandemie-Gesetz. Es umfasst soziale Forderungen, wie der Krankheitsurlaub für alle und ein Mindestlohn von 15 Dollar.

Die geplante Immigrationsreform, deren Eckpfeiler auch schon umrissen sind, fordert de facto eine Amnestie für alle bisherigen Immigranten. Und schliesslich wird die Biden-Regierung eine Infrastruktur-Sanierung vorschlagen, die – man ahnt es schon – mit gigantischen Ausgaben verbunden ist.

Die Frage ist bloss, ob sich die Republikaner ins Boot holen lassen. Vielleicht sitzt der Schock vom 6. Januar, als es im Kapitol fast zu einem Blutbad kam, so tief, dass ein Teil der Republikaner eine ungeahnte Kompromissbereitschaft entwickelt. Wenn nicht, landet Joe Biden sehr bald auf dem Boden der politischen Realität. Und die Seele Amerikas muss zuwarten, bis sie gerettet wird.

Isabelle Jacobi

USA-Korrespondentin, SRF

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Nach dem Studium in den USA und in Bern arbeitete Jacobi von 1999 bis 2005 bei Radio SRF. Danach war sie in New York als freie Journalistin tätig. 2008 kehrte sie zu SRF zurück, als Produzentin beim Echo der Zeit, und wurde 2012 Redaktionsleiterin. Seit Sommer 2017 ist Jacobi USA-Korrespondentin in Washington.

Tagesschau, 19.30 Uhr, 20.01.21

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