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Brexit-Chaos bei den Briten «Grossbritannien befindet sich in einer Staatskrise»

Theresa May kann zwar weitermachen – doch sie habe ihre Glaubwürdigkeit und ihre Autorität verloren, sagt der britische Politologe Anthony Glees.

Anthony Glees

Historiker und Politologe

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Anthony Glees ist ein britischer Politologe und Historiker. Derzeit lehrt er als Professor an der University of Buckingham, wo er das Centre for Security and Intelligence Studies (BUCSIS) leitet.

SRF News: Das Parlament stützt Premierministerin Theresa May und spricht ihr weiterhin das Vertrauen aus. Ist es richtig, dass May weitermachen kann, obwohl sie bis jetzt beim Brexit nichts erreicht hat?

Anthony Glees: Nein. Die gewaltige Deutlichkeit ihrer Abstimmungsniederlage beim Brexit-Vertrag beweist, dass sie eigentlich keine politische Glaubwürdigkeit und Autorität mehr hat. Doch sie braucht beides, um das Land zu regieren und um mit den EU-27 weiter über den Brexit verhandeln zu können. Ihre Rolle ist ohne Zweifel ausgespielt, und das wird wohl auch im Parlament so gesehen.

Die Situation ist verfahren. Kommt da bei der britischen Bevölkerung nicht so etwas wie Politikverdrossenheit auf?

Das britische Volk ist inzwischen stark politisiert und auch radikalisiert. Sowohl Brexit-Befürworter wie Gegner haben nicht unbedingt vom Thema Brexit, aber von den Politikern die Nase voll. Laut einer neuen Meinungsumfrage im Brexit-freundlichen Blatt «Daily Express» finden drei Viertel der Befragten, die Abgeordneten seien ihrer Aufgabe nicht mehr gewachsen.

Eine grosse Mehrheit findet, dass die Politiker ihre Arbeit nicht machen und das System stinkt.

72 Prozent wünschen sich eine Erneuerung des parlamentarischen Systems. Doch laut der Umfrage wollen immer noch 53 Prozent den Austritt aus der EU, bloss knapp die Hälfte will in der EU bleiben. Beide Seiten halten also an ihrer Meinung zum Brexit fest, doch sind sie sich darin einig, dass die Abgeordneten ihre Arbeit nicht richtig machen und das System stinkt.

May.
Legende: Symbol der britischen Staatskrise: Premierministerin Theresa May. Reuters

Wäre es tatsächlich eine Lösung, wenn sich die beiden grossen Parteien, die Konservativen und Labour, in jeweils mehrere Parteien aufspalten würden?

Das wäre sehr gut. Seit 40 Jahren herrscht in Grossbritannien ein Gezänk, das nicht nur das Volk teilt, sondern auch die Parteien. Es hilft Grossbritannien aktuell wenig, dass die regierenden Tories derart stark in unterschiedliche Flügel aufgesplittert sind – was bei Labour übrigens nur wenig anders ist. Die regierenden Tories sind aktuell handlungsunfähig. Grossbritannien befindet sich deshalb nicht nur in einer Regierungskrise, sondern auch in einer Staatskrise.

Mit dem jetzigen Zweiparteien-System drehen wir uns im Kreis.

Keine Partei, keine Mehrheit kann derzeit regieren. In einem Mehrparteiensystem würde eine Koalition die Regierung stellen – entweder eine für oder eine gegen den Brexit. Doch im jetzigen Zweiparteien-System drehen wir uns im Kreis. Die Uhr tickt und es droht der Absturz aus der EU – zusammen mit all dem Schlimmen, das uns damit bevorsteht.

Das Parteiensystem, das von den beiden Grossen Tories und Labour beherrscht wird, wird sich nicht von heute auf morgen ändern lassen. Welche Lösung für das Brexit-Problem bleibt übrig?

Es kann sein, dass es jetzt ein zweites Brexit-Referendum braucht. Wir können uns nicht endlos lange um das Brexit-Problem drehen, ohne eine Lösung zu finden. Ein No-Deal-Brexit wäre eine Katastrophe: Es stünden Millionen Arbeitsplätze auf dem Spiel. Deshalb sollte man das Volk vielleicht nochmals abstimmen lassen – jetzt, da es eine Vorstellung davon hat, dass ein No-Deal-Brexit ziemlich scheusslich wäre.

Vielleicht braucht es jetzt tatsächlich ein zweites Referendum.

Wenn die Briten unter diesen Umständen immer noch den Brexit wollen, dann werden nicht nur die Briten die Nase vom Brexit voll haben, dann wird ganz Europa davon die Nase voll haben. Das wäre zwar ein sehr schlimmes Szenario, aber der Demokratie wäre Folge geleistet. Also: Der willentliche No-Deal-Brexit ist zwar ein Unsinn, aber es wäre die einzig mögliche Lösung.

Das Gespräch führte Roger Aebli.

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