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Brexit-Verhandlungen Pandemie stellt Geschlossenheit der EU auf die Probe

EU-Chefunterhändler Michel Barnier legt jeden Satz auf die Goldwaage. Er spricht in der Regel Französisch. Wenn er die Sprache wechselt, sollte man hinhören. Wenn er ins Englische wechselt im Zusammenhang mit dem Brexit, dann ist die Lage in seinen Augen ernst: «Meine Damen und Herren, es ist inakzeptabel, bloss in ausgewählten Teilbereichen Fortschritte zu erzielen.»

So fasst Barnier die bisherigen Verhandlungen mit Grossbritannien zusammen. «Das Land kann sich nicht weigern, die Übergangsfrist zu verlängern, gleichzeitig aber die Verhandlungen zu verzögern.»

Frust über Stand der Verhandlungen

Barnier kritisiere die Verzögerungstaktik der britischen Verhandlungsdelegation undiplomatisch offen, analysiert Leonard Schuette, Politikwissenschaftler an der Universität Maastricht. «Barnier ist nicht dafür bekannt, ein besonders theatralischer Politiker zu sein.»

Dies bloss als Verhandlungspoker abzutun, hält er für falsch: «Er ist sehr frustriert darüber, wie die britische Seite verhandelt respektive nicht verhandelt, wie sie keine Fortschritte macht, Verpflichtungen nicht einhält und vor allen Dingen, wie wenig Realitätssinn in Grossbritannien noch immer vorhanden ist.» Unter diesen Bedingungen seien bis Ende Juni kaum Verhandlungsergebnisse zu erzielen.

Gespräche mit Mitgliedsländern

Schuette geht davon aus, dass Barnier trotzdem versuchen wird, diese Zeit sinnvoll zu nutzen – mit bilateralen Gesprächen in allen EU-Mitgliedsländern, um die Geschlossenheit der EU zu erhalten. Das war das Erfolgsrezept in der ersten Phase der Verhandlungen. So soll es bleiben.

Wegen der Corona-Pandemie bestehe aber die Gefahr, dass sich die EU in einzelne Lager teilt, meint Schuette. Die letzten Wochen legten offen, dass die Solidarität unter den EU-Staaten an Grenzen stösst und Eigeninteressen dominierten.

Barnier
Legende: Die Brexit-Gespräche unter Chefunterhändler Michael Barnier stehen im Schatten der Corona-Pandemie. Keystone

«Es besteht die Gefahr, dass der Streit über das Krisenmanagement, zum Beispiel über die Corona-Bonds, auch den Kompromisswillen unterminiert, den die Mitgliedstaaten aufbringen müssen, sollte es zu wichtigen Entscheidungen in den Brexit-Verhandlungen kommen.» Dieses Potenzial bestehe schon, sagt der Politikwissenschafter.

Keine direkten Treffen möglich

Die Corona-Pandemie stellt also die Geschlossenheit der EU auf die Probe, und sie macht die eigentlichen Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit dem Vereinigten Königreich komplizierter, weil sich beide Verhandlungsdelegationen nicht persönlich treffen können.

Beobachter sind sich einig: Können sich zumindest die Chefunterhändler bis Juni nicht persönlich an einen Tisch setzen, drohen die Verhandlungen zu scheitern – mit gravierenden wirtschaftlichen Folgen für beide Seiten.

Die Zeit drängt mehr denn je

Schuette glaubt darum, dass das Vereinigte Königreich letztlich doch noch einlenken und akzeptieren wird, dass die Verhandlungen mehr Zeit benötigen und über das laufende Jahr hinaus andauern werden. Diese Möglichkeit auszuloten, wird auch Teil der Gespräche diese Woche sein.

Das Vereinigte Königreich müsse nun die Karten auf den Tisch legen und erklären, wo Kompromisse möglich seien. Die Zeit dränge mehr denn je, sagte Barnier auf Englisch. Der Wechsel vom Französischen ins Englische und zurück erfolgte auch bei dieser Aussage nicht ohne Hintergedanken.

Rendez-vous, 11.05.2020, 12:30 Uhr

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