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Britische Hypothekenkrise Grossbritannien: Die Rechnung geht nicht auf

Wer wissen will, was die abstrakte Nachricht einer Leitzinserhöhung im Alltag bedeutet, spricht in diesen Tagen am besten mit Menschen wie Mary Lorimer.  Wir treffen die rüstige 59-jährige Britin mit der grünen Handtasche im Südwesten Londons auf dem Weg zu ihrer Bank.

«Ich weiss mittlerweile nicht mehr, wie ich meine Rechnungen bezahlen soll. Ich wasche nur noch in der Nacht oder am Wochenende, wenn der Strom ein bisschen billiger ist. Alles wird teurer und jetzt steigen noch die Zinsen. Wie soll ich das bezahlen?» 

Die Detailhandelsangestellte ist eine von einigen Zehntausend Hausbesitzerinnen, die in diesen Tagen das Gespräch mit ihrer Bank suchen. Wer gegenwärtig in London eine neue Hypothek mit zwei Jahren Laufzeit abschliesst, muss mit einem Schuldzins von sechs Prozent rechnen. Gemäss dem Institute for Fiscal Studies, einem Wirtschaftsinstitut in London, könnten wegen der Zinserhöhung weit über eine Million Hauseigentümer einen Fünftel ihres verfügbaren Einkommens verlieren.

Greift das Lehrbuch daneben?

Leute, die ein Haus besitzen, gehören in der Schweiz tendenziell eher zu den wohlhabenden Menschen. Nicht so in Grossbritannien. Mieterinnen und Mieter sind im Vereinigten Königreich eine Minderheit. Fast 70 Prozent der Briten besitzen ein Haus; oft finanziert mit kurzfristigen Hypotheken von einem bis zwei Jahren Laufzeit.

Die Zinsen für Hypothekar-Darlehen steigen zurzeit auf der ganzen Welt, doch in Grossbritannien signifikant mehr als in Frankreich, Deutschland, Irland oder Belgien. Trotzdem tut die Regierung so, als wären die Inflation und die steigende Zinslast ein Naturphänomen wie das Wetter, auf das sie keinen Einfluss hat.

Es gelte nun die Nerven zu behalten und alles komme gut, verkündete Premierminister Rishi Sunak. Um die Inflation zu verringern, müsse die Geldmenge reduziert und deshalb die Zinsen für Kredite erhöht werden. So lautet simplifiziert seine finanzpolitische Botschaft. Gemäss Ökonomie-Lehrbuch mag das stimmen, doch die Sorgen der Menschen sind nicht irgendein abstrakter Koeffizient einer mathematischen Gleichung.

Regierung könnte abgestraft werden

Besonders nicht, wenn Ende Monat die Rechnung nicht mehr aufgeht. Immer mehr Hausbesitzerinnen fordern deshalb Hilfe vom Staat. Doch der britische Schatzkanzler Jeremy Hunt winkt ab. Das Einzige, was er den Britinnen und Briten nach einem Krisengipfel mit den britischen Banken am vergangenen Freitag anbieten konnte, sind zwölf Monate Schonzeit. «Die Banken haben mir versichert, dass es eine Übergangszeit von zwölf Monaten gibt, bis ein Haus geräumt wird», so Hunt.

Ein schwacher Trost für geplagte Hausbesitzerinnen und Hausbesitzer. Experten gehen davon aus, dass bis Ende Jahr 1.5 Millionen Britinnen und Briten ihre Hypothek erneuern müssen und dabei an ihr finanzielles Limit kommen könnten. Viele von ihnen erachten die steigenden Zinsen nicht einfach als unberechenbare Zufälligkeit wie einen verregneten Sonntag, sondern als Folge der Inkompetenz der Regierung. Erste Umfragen zeigen, dass dies im kommenden Wahljahr für die Konservativen eine massive politische Hypothek werden könnte.

Patrik Wülser

Grossbritannien-Korrespondent

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Patrik Wülser arbeitet seit Ende 2019 in London als Grossbritannien-Korrespondent für SRF. Wülser war von 2011 bis 2017 Afrika-Korrespondent und lebte mit seiner Familie in Nairobi. Danach war er Leiter der Auslandsredaktion von Radio SRF in Bern.

Echo der Zeit, 27.06.2023, 18:00 Uhr

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