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«Wir müssen erst lernen, Europäer zu sein»
Aus Echo der Zeit vom 01.03.2019. Bild: Keystone
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Bruchlinien in der EU «Sonst gibt es Europa einfach nicht mehr»

Mit dem Brexit wird der Ärmelkanal zur Bruchstelle zu Kontinental-Europa. Eine andere europäische Bruchstelle liegt zwischen den Staaten im Westen und jenen in Ost-Mitteleuropa. Die Regierungen von Ungarn, Polen oder Tschechien drohen sich immer mehr von Brüssel zu entfernen.

Dabei müsse Europa einen gemeinsamen Weg finden, und eine gemeinsame Identität, ist Erhard Busek überzeugt. Sonst sei es um Europa geschehen.

Erhard Busek

Erhard Busek

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Erhard Busek war österreichischer Vizekanzler der ÖvP und leitet seit seinem Rücktritt das renommierte Institut für den Donauraum und Mitteleuropa.

SRF News: Welche Bruchlinie ist brisanter: Jene zwischen Grossbritannien und Kontinentaleuropa oder jene zwischen dem Westen und Mitteleuropa?

Erhard Busek: Die brisantere ist jene zwischen dem Westen und Mitteleuropa, denn hier wird der Hintergrund der Geschichte wirksam. Es geht um die Orientierung der Hälfte Mitteleuropas nach Moskau. Und es betrifft kulturelle Unterschiede sowie unterschiedliche Zeitverläufe innerhalb der EU, die für beide Seiten eine wichtige Rolle spielen. Es stellt sich die Frage, ob man hier eine Verständigung findet – und ein gemeinsames Narrativ, das wir für Europa brauchen.

Die 70 Jahre sowjetischer Geschichte lassen sich nicht einfach wegschieben.

Ist es Zufall, dass die Bruchlinie genau dort verläuft, wo früher der Eiserne Vorhang hing?

Das kann gar kein Zufall sein, denn es ist eine unterschiedliche Geschichte. Diese Länder halten uns vor, dass wir diese Unterschiede nicht richtig begreifen – und sie haben recht. Denn die 70 Jahre sowjetischer Geschichte lassen sich nicht einfach wegschieben. Hinzu kommt eine unterschiedliche Entwicklung, was Wirtschaft, Einkommen und Soziales angeht. Dabei muss man festhalten: Die Zustimmung zur EU ist bei der Bevölkerung der Länder, die ehemals hinter dem Eisernen Vorhang lagen, wesentlich höher als bei jenen Ländern, die schon seit Jahrzehnten in der EU sind.

Trägt die beschwörte «europäische Identität» auch mitteleuropäische Züge?

Mit Sicherheit. Die europäische Idee ist dort sogar stärker entwickelt. Denn es sind meist kleine Länder, die sich eine Eigenständigkeit nicht leisten können – wie das die Franzosen mit ihrer kolonialen Vergangenheit, die Deutschen mit ihrer Grösse oder die Briten mit ihrer Empire-Geschichte können. Die Ost-Mitteleuropäer sind darauf angewiesen, freundliche Nachbarn zu haben. Dies ist ein stark bindender Faktor, der von aussen unterschätzt wird.

Symbolbild: EU-Flaggen vor dem Sitz der EU-Kommission in Brüssel.
Legende: Europa habe eigentlich keine andere Wahl, als sich zusammenzuraufen, sagt Busek. Keystone

Ist Mitteleuropa nach der Wende 1989 vom Westen kolonialisiert worden?

Das ist eine Behauptung, die im Ökonomischen teilweise eine Berechtigung hat, im Kulturellen und Sozialen aber überhaupt nicht. Was wir generell unterschätzen, ist der Zeitfaktor. Wir müssen noch lernen, «Europäer» zu sein. Denn das Europa, von dem wir sprechen, gibt es eigentlich erst seit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Wir sind diesbezüglich mitten in einem Lernprozess und sitzen im Grunde genommen immer noch in der ersten Klasse des Unterrichts.

Wir müssen auf Gedeih und Verderb einen gemeinsamen Weg finden – oder es gibt Europa einfach nicht mehr.

Passt die westliche Demokratie überhaupt zu Mitteleuropa?

Es gibt sehr unterschiedliche Demokratiezustände. Man vergleiche bloss die britische mit der französischen Demokratie, dasselbe gilt auch für Österreich oder die Schweiz.

Warum ist das Bedürfnis nach nationaler Abgrenzung in Mitteleuropa – Stichwort Nationalismus – so stark?

Es ist nicht Nationalismus. In Wahrheit ist es nichts anderes als Egoismus. Dieser entsteht daraus, dass wir in einer Zeit ungeheurer Veränderungen leben. Das erzeugt Angst. Der Mensch neigt in dieser Situation dazu, sich zu beschützen und auf sich selber zurückzufallen. Ganz gemäss dem Wiener Spruch: «Jeder denkt an sich – nur ich denke an mich.» Dies ist nicht nur im Mitteleuropa zu beobachten. «America First», behauptet da etwa jemand jenseits des Atlantiks.

Was halten Sie von den Ideen eines «Europas der zwei Geschwindigkeiten» – mit unterschiedlichem Tempo bezüglich der Integration?

Nichts. Das hört sich zwar gut an. Doch die Idee scheitert schon an der Frage, wer zu welchem Teil Europas gehört. Denn jeder will beim aus seiner Sicht besseren Teil sein. Europa ist nicht so gross, dass wir uns eine Teilung leisten können. Wir müssen auf Gedeih und Verderb einen gemeinsamen Weg finden – oder es gibt Europa einfach nicht mehr.

Das Gespräch führte Roger Brändlin.

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