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Carla Del Ponte zur Ukraine «Justiz kann warten, aber Gerechtigkeit wird kommen»

Die ehemalige UNO-Chefanklägerin, Carla Del Ponte, brachte Kriegsverbrecher hinter Gitter. Im Gespräch erzählt sie, wie es Wladimir Putin ergehen könnte.

Carla Del Ponte

Ehemalige UNO-Chefanklägerin

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Carla Del Ponte war die erste Schweizer Bundesanwältin. International bekannt wurde sie als Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien wie auch für Ruanda. Von 2008 bis zu ihrer Pensionierung 2011 war Del Ponte Schweizer Botschafterin in Argentinien. Anschliessend untersuchte sie als UNO-Sonderberichterstatterin die Menschenrechtsverletzungen in Syrien.

2008 veröffentlichte sie ihre Memoiren «Im Namen der Anklage», in denen sie ihre Erfahrungen als Chefanklägerin beschreibt. Das Buch wurde damals kontrovers diskutiert. Del Ponte behauptete darin, Kosovo-Albanerinnen und -Albaner hätten mit geraubten Organen serbischer Gefangener Handel betrieben.

SRF News: Warum sprechen Sie sich für einen internationalen Haftbefehl gegen Präsident Putin aus?

Carla Del Ponte: Weil man mit dem Prozess beginnen kann, sobald Präsident Putin verhaftet ist. Das ist sehr, sehr wichtig für die vielen Opfer. Das passiert nicht von heute auf morgen, die Ermittlungen dauern immer lange. Doch in diesem Fall gibt es einen Vorteil. Denn in diesem Fall sind die «crime base», also die kriminellen Grundlagen einfach zu beweisen.

Die Gestorbenen sind gestorben, sie kommen nicht zurück. Aber die Gerechtigkeit ist so wichtig für die Opfer.

Die (ukrainische) Regierung selbst hat für Ermittlungen angefragt und wird alle Beweise vorlegen, was in den verschiedenen Städten geschehen ist. Man muss die Befehlskette hinauf ermitteln, das ist zwar heikel, aber ich glaube, dass man durchkommen wird.

Sie waren Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien. Welche Analogien sehen Sie zwischen Wladimir Putin und dem ehemaligen serbischen Staatschef Slobodan Miloševic?

Die Analogie ist, wie beide den jeweiligen Krieg mit Entschuldigungen rechtfertigen. Miloševic rechtfertigte den Krieg in Kosovo mit der Begründung, die Albaner seien Terroristen. Das hat er immer gesagt. Und Präsident Putin rechtfertigt seinen militärischen Einmarsch in die Ukraine mit der Notwendigkeit einer «Entnazifizierung». Mit dieser Legitimation, von etwas, das nicht existiert, haben beide, Miloševic und Putin, argumentiert. Also scheinen sie sich doch rechtfertigen zu müssen.

Wie realistisch ist es, dass Präsident Putin in der nächsten Zeit verhaftet wird?

Ich erinnere mich an Miloševic. Er war der serbische Präsident und niemand hat daran geglaubt, dass es zur Verhaftung kommt. Aber es ist passiert. Man muss daran glauben, daran arbeiten und – abwarten. Die Justiz kann abwarten. Aber Gerechtigkeit kommt. Gerechtigkeit für die Opfer.

Warum sind solche Strafprozesse für die Gesellschaft so wichtig? Und für wen sind sie wichtig?

Man kann kaum glauben, wie die Opfer auf die Justiz warten. Das habe ich im Tribunal für Ex-Jugoslawien erlebt. Die Frauen von Srebrenica haben mich gebeten, ich solle Miloševic vor das Gericht in Den Haag bringen. Die Gestorbenen sind gestorben, sie kommen nicht zurück. Aber die Gerechtigkeit ist so wichtig für die Opfer. Denn das hilft, das Leiden besser zu ertragen. Ich hätte nie gedacht, dass es so wichtig ist. 

Das Interview führte Marcel Niedermann.

Club, 22.03.2022, 22:25 Uhr

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