Seit dreieinhalb Wochen schweigen in Idlib die Waffen. Die Waffenruhe, auf die sich Russland und die Türkei geeinigt haben, hält zu grössten Teilen. Doch die Folgen der vorhergegangenen Offensive durch die russische Luftwaffe und die Truppen des syrischen Präsidenten Assad sind verheerend: Fast eine Million Menschen ist innerhalb der nordsyrischen Enklave auf der Flucht.
Viele dieser Flüchtlinge sind während der letzten neun Kriegsjahre schon mehrmals geflohen. Aus Homs oder Hama. Aus den Vororten Damaskus’, aus Aleppo oder aus Daraa. Doch vor der globalen Pandemie werden sie nicht fliehen können.
Atemwegsinfektionen wegen Brennmaterial
«Viele dieser Flüchtlinge leben unter extrem unhygienischen Verhältnissen. Manche haben nicht einmal Zugang zu den grundlegendsten Dingen wie Trinkwasser oder medizinischer Versorgung.» Cristian Reynders ist Projektkoordinator von «Ärzte ohne Grenzen» (MSF) in Idlib.
Gemäss MSF mussten in den vergangenen Wochen besonders viele Patienten wegen Atemwegsinfektionen behandelt werden. Dies, weil die Menschen in der Kälte ihre Zelte mit allem beheizen, was sie irgendwo finden können. Meist sind dies minderwertige Brennstoffe. Eine Infektion mit der Lungenkrankheit Covid-19 könnte allein schon dadurch noch verheerendere Folgen haben als sonst schon.
Wir erreichen Mostafa Tarraf via Telefon. Tarraf ist Arzt, und die Sorgen, die ihn umtreiben, sind selbst über die Distanz fast körperlich spürbar: «Es ist unheimlich!» In Idlib wurden bis Mitte Woche zwar noch keine Fälle bekannt, aber in der benachbarten Türkei steigen die Zahlen rasant, und die Machthaber in Damaskus mussten jüngst den ersten Fall zugeben.
Es dürfte bei weitem nicht der einzige sein. «Die meisten Spitäler und medizinischen Einrichtungen wurden von den Russen und vom Regime zerstört», klagt Doktor Tarraf. «Was übrig ist, ist völlig unvorbereitet auf das, was da auf uns zukommt.»
Distanzhalten unmöglich
Die Waffenruhe verschärft das Problem noch: «Viele Leute wollen nicht still in ihren Kellern oder Zelten sitzen. Nach all den Bomben und dem Krieg sind sie völlig unachtsam, was das Corona-Virus betrifft. Sie wollen einfach raus.» Einen «Lockdown» durchzusetzen, sei unmöglich, so Mostafa Tarraf. Aufklärungskampagnen über «Distanzhalten» oder Hygiene sind unter den Umständen, die in Idlib herrschen, sinnlos. «Die Türken haben beim Flüchtlingslager Atmeh 20 Zelte aufgestellt. Diese sollen als Quarantäne-Stationen dienen, falls das Virus Idlib erreicht.»
Amena ist eine Aktivistin, auch sie erreichen wir über Telefon. «Wir haben zwar die Freitagsgebete gestoppt, und ein paar Nichtregierungs-Organisationen versuchen, die Menschen zu sensibilisieren.» Grosse Hoffnung hat Amena aber nicht: «Wir können in den Zeltlagern weder Familien isolieren noch die Kinder zurückhalten. Die Zahl der Fälle wird explodieren, wenn das Virus hier ankommt.»
300 Tests für 3 Millionen
Der einzige von unseren Kontakten, der äusserlich ruhig bleibt, ist Abu Ghazi, ein ehemaliger Kämpfer der früheren Freien Syrischen Armee. Abu Ghazi hat inzwischen in der islamistischen Miliz «Ahrar al-Sham» Karriere gemacht und ist zu einem Kommandanten aufgestiegen. «Wir haben nicht viele Möglichkeiten gegen das Corona-Virus. Wir haben unsere Quartiere desinfiziert und unsere Kämpfer zur persönlichen Hygiene angehalten. Zudem messen wir täglich die Temperatur unserer Männer.» Wer im Krieg lebt, hat andere Sorgen als ein Virus. Inzwischen sind immerhin die ersten Corona-Tests in Idlib angekommen. 300 Tests. Für 3 Millionen Kriegsgeschundene.