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Coronavirus «Der Anteil der Variante wird grösser – und es passiert nichts»

Die Corona-Fallzahlen sinken in der Schweiz seit Wochen, doch die Anzahl der mutierten Varianten nimmt stetig zu. In Deutschland wurden deswegen gerade die Massnahmen verlängert, in der Schweiz sind Lockerungen per Ende Februar wenig wahrscheinlich. Dabei wird immer wieder auf Modelle verwiesen, nach denen mit den Varianten die Fallzahlen wieder steigen würden. Doch der renommierte deutsche Forscher Klaus Stöhr widerspricht: Dafür gebe es bis jetzt keine Anzeichen.

Klaus Stöhr

Epidemiologe und Virologe

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Stöhr studierte Epidemiologie in Leipzig. 1992 stiess er zur Weltgesundheitsorganisation (WHO), wo er in der Folge verschiedene Positionen im Bereich übertragbare Krankheiten innehatte. Von 2000 bis 2006 war Stöhr Leiter des globalen Influenza-Programms der WHO.

Im Jahr 2003 war er leitend bei der SARS-Bekämpfung der WHO dabei. Anfang 2007 wechselte er in die Impfstoff-Entwicklung der Pharmafirma Novartis und arbeitete dort bis 2011.

Aktuell engagiert er sich in der Arbeitsgruppe «Corona-Strategie» in Deutschland.

SRF News: Die Angst vor Corona-Mutationen ist gross und bestimmt in Deutschland wie der Schweiz die Strategie zur Bekämpfung des Coronavirus. Sie beobachten die internationale Entwicklung sehr genau, ist die Angst übertrieben?

Klaus Stöhr: In England haben Epidemiologen und Labortechniker zunächst beobachtet, dass die neue Variante ansteckender ist. Da war die Sorge natürlich gross und berechtigt. Interessanterweise gibt es jedoch keine höheren krankmachenden Eigenschaften, keine höhere Sterblichkeit und auch keine Veränderung in der Altersstruktur der Erkrankten. Das haben inzwischen epidemiologische Untersuchungen ergeben.

Es gibt keine höheren krankmachenden Eigenschaften, keine höhere Sterblichkeit und auch keine Veränderung in der Altersstruktur der Erkrankten.

In Grossbritannien und Irland war die Furcht vor der Variante besonders gross, die Situation schien schlimmer zu werden?

In Irland hatte man zum Ende des letzten Jahres einen dramatischen Anstieg der Gesamtfälle beobachtet. Dieser wurde von den irischen Gesundheitsbehörden eindeutig auf das veränderte soziale Verhalten der Iren zurückgeführt und hatte nur am Rande mit der Variante zu tun. Erst in den letzten Tagen vor dem Peak ist die Variante vermehrt beobachtet worden, da waren rund 20 Prozent der Variante zuzuordnen. Interessanterweise sind danach die Fälle um 80 Prozent gesunken, gleichzeitig hat sich der Anteil der Variante auf fast 50 Prozent erhöht. Das bedeutet: Die Bekämpfung durch Massnahmen hat funktioniert, trotz der signifikanten Zunahme der Variante.

Taskforce: «Massnahmen und deren Befolgung sind wirkungsvoll»

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Die Swiss National COVID-19 Science Task Force hat gegenüber SRF News schriftlich auf eine Anfrage bezüglich der Varianten geantwortet:

« Es ist sehr positiv und ermutigend, dass Grossbritannien und Irland die Infektionen im Januar so schnell reduzieren konnten. Mehrere Faktoren haben wahrscheinlich zu diesem Erfolg beigetragen. Beide Regionen haben seit Ende Dezember strengere Massnahmen als die Schweiz. Das lässt sich am ‹Oxford Stringency Index› ablesen, der ein Mass ist für die Strenge der Eindämmungsmassnahmen. Aber ganz wichtig ist natürlich auch das Verhalten der Bevölkerung. Eine Studie des University College London zeigt, dass die Befolgung der Massnahmen durch die Bevölkerung im Dezember zugenommen hat auf den höchsten Wert seit dem letzten Frühling.

Aufgrund der erhöhten Übertragbarkeit war zu erwarten, dass der Anteil der Variante B.1.1.7 an allen Infektionen stetig ansteigt. Dass jetzt die Infektionen trotzdem insgesamt zurückgegangen sind, heisst nicht, dass die erhöhte Ansteckungsrate von B.1.1.7 nicht wesentlich zu den hohen Fallzahlen in Grossbritannien und in Irland beigetragen hat. Der Rückgang weist darauf hin, dass die strengen Massnahmen, und die gute Umsetzung der Massnahmen durch die Bevölkerung, wirkungsvoll waren.»

In Grossbritannien war zum Höhepunkt die Variante bereits für viele Fälle verantwortlich. Doch auch hier sind die Fallzahlen in den letzten Wochen nun um zwei Drittel eingebrochen, obwohl die Variante anteilsmässig noch mehr zugenommen und fast hundert Prozent erreicht hat.

In der Schweiz hatten und haben wir keinen so starken Lockdown wie in Irland und Grossbritannien, was ist hier zu beobachten?

Die Schweiz ist mit Dänemark vergleichbar, was Massnahmen und Fallzahlen angeht. Wir sehen bei beiden Ländern einen linearen Rückgang. Gleichzeitig nehmen auch hier die Varianten sukzessive zu.

Die Fallzahlen im 7-Tage-Durchschnitt pro Million Einwohner von Grossbritannien, Irland, Dänemark, Deutschland und der Schweiz.
Legende: Die Fallzahlen im 7-Tage-Durchschnitt pro Million Einwohner von Grossbritannien, Irland, Dänemark, Deutschland und der Schweiz. SRF

Eigentlich wäre es ja logisch, dass nun die Fallzahlen wieder ansteigen, die Variante ist schliesslich ansteckender?

Der Denkansatz ist falsch, dass Mutationen, die im Labor und in den Modellrechnungen ansteckender sind, dies auch in der realen Welt sein müssen. Varianten entstehen immer – und wenn nun die Modelle mit höherer Infektiosität nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen, dann muss man das Modell ändern. Die im Labor beobachtete höhere Ansteckung wirkt sich in der realen Bekämpfung offenbar nicht negativ aus.

Der Denkansatz ist falsch, dass Mutationen, die im Labor und in den Modellrechnungen ansteckender sind, dies auch in der realen Welt sein müssen.

Die Modelle, die auch hierzulande gerne zur Illustration gezeigt werden, sind also falsch?

Modelle sind nur so gut wie die Datengrundlage. Und wenn diese unklar ist, können die Modelle auch falsch liegen. Nun haben wir genug empirische Daten gesammelt, wenn man sich die Trends in verschiedenen Länder anschaut, dass man die Modelle nun ganz schnell überdenken sollte.

Die Länder haben unterschiedliche Massnahmen, wie wirkt sich das denn konkret aus?

Es gibt Länder, die nach einem schlimmen Peak harte Massnahmen ergriffen haben, wie England und Irland, und die Massnahmen haben gewirkt, trotz Varianten. In Ländern wie der Schweiz, Deutschland oder Dänemark hat es in den letzten Wochen keine grossen Änderungen in der Bekämpfungsstrategie gegeben, und die Fallzahlen sinken entsprechend weniger ab. Gleichzeitig wird der Anteil der Variante immer grösser – und es passiert nichts.

Nun haben wir genug empirische Daten gesammelt, dass man die Modelle nun ganz schnell überdenken sollte.

In Frankreich zum Beispiel sind die Massnahmen weniger streng, die Varianten nehmen signifikant zu und die Fallzahlen nur leicht. Auch hier: keinen Einfluss.

Was müsste den jetzt in Ländern wie Deutschland und der Schweiz passieren?

Ich vertrete hier eine Einzelmeinung, insbesondere was Deutschland angeht. Ich beobachte, dass der wissenschaftliche Diskurs bei der Entscheidungsfindung hier viel zu wenig zum Tragen kommt. Sie brauchen ein Expertengremium mit Epidemiologen, Virologen, Psychologen, Soziologen, Spital-Hygienikern, Schulexperten und vielen anderen, das zusammen Vorschläge unterbreitet, die die Politik dann umsetzen soll. Aus meiner Sicht wäre es notwendig, einen Stufenplan oder ein Ampelsystem zu haben – also zum Beispiel bei steigenden Erkrankungszahlen oder R-Wert ergreift man Massnahmen, und bei fallenden Zahlen die entgegengesetzten Massnahmen. Dies ist auch für die Öffentlichkeit transparent und gibt eine Perspektive.

Ihre Beobachtungen zu den Varianten sind eigentlich gute Nachrichten, kommt das Ende der Pandemie schneller?

Nein, die Variante beendet die Pandemie nicht schneller. Die Pandemie endet erst, wenn alle immun sind. Dies geschieht idealerweise durch eine Impfung, wahrscheinlicher geschieht es aber erst, wenn alle infiziert sind, weil der Impfstoff nur in einem kleinen Teil der Welt verfügbar ist.

Durch die Impfung werden Todes- und Krankenhausfälle in den nächsten Monaten dramatisch zurückgehen.

Doch auch dann wird es Reinfektionen geben. Was aber richtig ist: Durch die Impfung wird sich die Hauptauswirkung der Pandemie dramatisch verändern – in den nächsten Monaten werden Todes- und Krankenhausfälle dramatisch zurückgehen.

Das Gespräch führte Matthias Schmid.

SRF 4 News, 11.2.2021, 12:30 Uhr ; 

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