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Das Bild in Russlands Medien Im Westen lebt sich's schrecklich

Hohe Kriminalität, Terrorismus und soziale Proteste: So berichten die russischen TV-Sender über Europa.

Das Fernsehen prägt in Russland die politische Meinungsbildung, deutlich vor dem Internet. Erst weit abgeschlagen folgen das Radio und die Zeitungen. «85 Prozent der Berichte in den drei führenden russischen Fernsehsendern zeichnen ein Negativbild», sagt Ruslan Kavatsiuk, Forscher am Ukraine Crisis Media Center, der für die Studie verantwortlich ist.

«Das ist den meisten im Westen gar nicht bewusst und ausserdem egal. Man müsste es aber wissen, um die russische Politik und Haltung gegenüber Europa zu verstehen.» Es erklärt auch, warum russische Politiker Beifall ernten, wenn sie sich kritisch, mitunter gar feindselig gegenüber dem Westen äussern.

Hintergrund zur Studie

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Die Studie ist vom estnischen Institut für Ostpartnerschaften finanziert und vom Ukraine Crisis Media Center durchgeführt worden. Letzteres wird von den USA und der EU unterstützt . Die Daten wurden während dreieinhalb Jahren, vom 1. Juli 2014 bis 31. Dezember 2017, erhoben. Dies entspricht der Zeit der russischen Annexion der Krim und der russischen Verstrickung in den Ostukraine-Konflikt .

Während des Beobachtungszeitraums verstärkte sich die Tendenz sogar noch ganz erheblich, indem sich die Anzahl negativer Berichte fast verdoppelte. Wohl nicht zufällig handelte es sich um die Phase seit der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim und der russischen Verstrickung in den Ostukraine-Konflikt. Und damit verbunden das Torkeln in eine Neuauflage des Ost-West-Gegensatzes.

Nichts Positives über Spanien und Irland

Die Tatsache, dass über einzelne Länder oder eine Ländergruppe wie die EU häufig negativ berichtet wird, wäre für sich allein betrachtet noch nicht sonderlich bemerkenswert. Auch europäische Medien berichten kritisch über die USA und amerikanische ihrerseits über Europa. Und die negativen Berichte über Russland dürften in westlichen Medien seit Ausbruch des Krim-Konflikts erheblich zugenommen haben.

Es liegt in der Natur des Journalismus, dass eher über das Ungewöhnliche als über das Gewöhnliche berichtet wird. Glücklicherweise ist es so, dass – von Kriegs- und Katastrophengebieten abgesehen – das Positive meistens überwiegt und das Negative die Ausnahme darstellt, also das Berichtenswerte ist.

Auffallend ist aber in der Langzeitstudie das Ausmass der Negativberichterstattung und die Fokussierung. Im Fall einzelner europäischer Länder wie Spanien oder Irland überwogen Berichte mit klar negativer Tendenz mit deutlich über 90 Prozent. Das heisst: Positivgeschichten gab es praktisch keine. Bei den europäischen Schwergewichten wie Frankreich, Deutschland und Grossbritannien waren rund neun von zehn Beiträge negativ.

Die Medienbeobachtung in freien Gesellschaften zeigt, dass normalerweise ausländische Medien weitgehend dieselben Kritikpunkte aufgreifen wie die inländischen. So ist das Lavieren der britischen Regierung in der Brexit-Frage im Lande selber ebenso ein Thema wie in der Berichterstattung im Ausland.

US-Präsident Donald Trump wird von vielen amerikanischen Medien ähnlich kritisch gesehen wie von ausländischen Korrespondenten in Washington. Und bei der Berichterstattung über die jüngste Regierungskrise in Berlin finden sich in der Tonalität nicht grosse Unterschiede zwischen deutschen und internationalen Medien.

Der Westen verrät seine Kultur und Religion

Im Fall der Berichterstattung in Russland über den Westen ist das jedoch gänzlich anders: Die Hauptstossrichtung, so Ruslan Kavatsiuk, lautet nämlich: «Das Leben im Westen ist schrecklich und gefährlich. Es ist geprägt von dramatisch hoher Kriminalität, von Terrorismus, von Unsicherheit und sozialen Protesten. Die Menschen sind unzufrieden.»

Und: Der Westen, so die russische Berichterstattung, ist auf dem absteigenden Ast, verrät seine Werte, seine Kultur und seine christliche Religion. Er wird immer dekadenter, was sich auch darin äussert, dass er Homo- und Transsexuellen immer mehr Rechte einräumt.

Dazu kämen das Flüchtlingsproblem und die Sanktionen gegen Russland, die in Tat und Wahrheit dem Westen selber am meisten schadeten.

Europäische Medien dramatisieren nicht wie russische

Die meisten dieser Narrative werden von den Bewohnern der jeweiligen europäischen Länder überhaupt nicht geteilt. So dürften beispielsweise die wenigsten den Eindruck haben, auf einem besonders gefährlichen Kontinent zu leben. Probleme wie Kriminalität oder Korruption existieren; darüber wird durchaus berichtet. Doch die wenigsten Europäer dürften das Ausmass als bedrohlich empfinden – und die jeweilige nationale Berichterstattung dramatisiert sie bei weitem nicht in dem Masse wie das russische Medien tun.

Die Frage stellt sich deshalb: Warum sehen russische Redaktionen, im vorliegenden Fall die drei führenden Fernsehsender, die westlichen Länder derart anders als diese selber es tun?

Offenkundig orientieren sich die russischen Redaktionen – anders als das westliche Auslandkorrespondenten meistens tun – kaum oder überhaupt nicht an den Beobachtungen, Gewichtungen und Darstellungen der jeweiligen nationalen Medien in Italien, Grossbritannien, Deutschland oder der Schweiz. An was orientieren sie sich also stattdessen?

Fifa-Machenschaften werden der Schweiz angelastet

Bemerkenswert ist, dass zwei Länder, die Schweiz und Weissrussland, weitaus weniger scharf angegriffen werden als die übrigen. Bei diesen beiden fallen nur 43 Prozent (Schweiz), beziehungsweise 40 Prozent (Weissrussland) der Berichterstattung klar negativ aus. Forscher Ruslan Kavatsiuk erklärt das damit, dass die Schweiz weder der Nato noch der EU angehört und viele Kreml-Vertraute ihre Gelder hier geparkt haben. Er betont allerdings, dass es sich hier bloss um – zwar plausible – Vermutungen handelt.

Denn die Ursachenforschung war nicht Gegenstand der Studie. Auffallend ist ebenfalls, dass Kritik an den Schweizer Banken eher selten ist. Hingegen wird auch im Fall der Schweiz reichlich über Dekadenz, über soziale Unruhen und Korruption berichtet. Auch dies eine Sichtweise, die in der Schweiz selber nicht von allzu vielen geteilt werden dürfte. Die Machenschaften beim Weltfussballverband Fifa werden übrigens gewöhnlich der Schweiz angelastet.

Eine interessante Beobachtung ist zudem: Bisweilen werden kleinste Kundgebungen oder Familiendramen, die sogar am Ort des Geschehens medial kaum beachtet werden, von russischen Redaktionen zu grossen Geschichten aufgebauscht. Und zwar tut das jeweils nicht bloss ein einzelnes Medium, sondern viele, private wie öffentliche tun es – und oft mit denselben Textbausteinen. Das, so die Studienverfasser, deute zumindest darauf hin, dass die Negativberichterstattung von ganz oben gesteuert werde.

Frage nach dem Warum bleibt unbeantwortet

Die Studie liefert eine Übersicht und Einordnung des im russischen Fernsehen Gesendeten. Sie beantwortet weder die Frage nach dem Warum noch jene, wer die Fäden zieht.

Aber sie liefert zumindest Hinweise für Erklärungen. Und ebenso selbstverständlich wie unweigerlich liefert sie jenen Nahrung, die vor einem Informationskrieg gegen den Westen warnen und die führenden russischen Medien als Instrument in diesem Krieg sehen.

Fredy Gsteiger

Diplomatischer Korrespondent

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Fredy Gsteiger ist diplomatischer Korrespondent und stellvertretender Chefredaktor bei Radio SRF. Vor seiner Radiotätigkeit war er Auslandredaktor beim «St. Galler Tagblatt», Nahost-Redaktor und Paris-Korrespondent der «Zeit» sowie Chefredaktor der «Weltwoche».

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