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Demonstrationen wegen Gesetz Die Menschen in Tiflis wollen keine Abkehr von Europa

Das «Agentengesetz» wurde zurückgenommen, doch die Angst der Menschen vor dem Einfluss Russlands bleibt.

Die Rustaveli-Allee, die Prachtstrasse im Herzen der georgischen Hauptstadt Tiflis, hat schon viele Proteste, ja Revolutionen gesehen. Der Rustaveli-Boulevard sei der wichtigste politische Faktor in Georgien, ätzte einst ein georgischer Schriftsteller.

Menschenmenge.
Legende: In den letzten Tagen gingen tausende Menschen in Tiflis auf die Strasse und protestierten gegen das «Agentengesetz». SRF/Judith Huber

Diese Woche war es wieder so weit: Mehrere Nächte lang protestierten Tausende gegen das «Agentengesetz» – denn dieses hätte die Abkehr von Europa bedeutet, so deren Überzeugung. Tatsächlich kamen entsprechende Signale aus Brüssel. Dort betrachtet man das Gesetz als unvereinbar mit europäischen Standards.

«Langfristig unsere Freiheit bedroht»

Auch die 25-jährige Unternehmerin Mariama Maisuradse sagt: Dass Georgien der Weg in die EU versperrt werden würde – das sei ihre Hauptangst und Motivation gewesen, zu demonstrieren. «Ich weiss, was der Verlust der europäischen Perspektive bedeuten würde – ich produziere Kleider und werde dabei von westlichen Geldgebern unterstützt.»

Ausserdem habe sie als Studentin die Chance gehabt, mit dem Erasmus-Programm im Ausland zu studieren. Das alles zu verlieren, wäre eine Katastrophe für Georgien. Und Maisuradse fügt an: «Langfristig wäre unsere Freiheit bedroht. Und wir wissen das.»

Wut gegen Russland

Am Freitagmittag haben sich erst ein paar hundert Menschen vor dem Parlament versammelt – vielen ist die Erschöpfung der langen Protestnächte anzusehen. So auch dem 66-jährigen David Galogre, einem Mann in Lederjacke und schwarzem Pulli. Er sei hier, weil er Russlands Putin hasse. Putin stecke hinter all dem, und der georgische Präsident Iwanischwili sei sein Untergebener. Deshalb protestierten sie. Iwanischwili müsse weg, so Galogre.

Ein Plakat zeigt Putin, der mit vier Personen (mit Menschenköpfen und Hunde-Unterleib) an der Leine Gassi geht.
Legende: «Regierung? Nein, ein Puppentheater», heisst es auf diesem Plakat und soll darstellen, dass die georgische Regierung abhängig von Russland sei. SRF/ Judith Huber

Keine Zeit für Proteste hat eine Frau mittleren Alters, die bei einem Hauseingang Softeis an die Passanten verkauft. Aber auch sie sagt: Die Georgier wollten dieses russische Gesetz nicht.

Eine Gruppe Studentinnen und Studenten trifft ein. Sie begeben sich in einen Park hinter dem Parlamentsgebäude, während drinnen die Abgeordneten das umstrittene Gesetz – wie am Vortag angekündigt – in zweiter Lesung zurückziehen.

Wilde Verschwörungstheorien

Nicht zum Jubeln zumute ist einer alten Frau in einem ruhigen Gässchen in der Altstadt. Die Häuser dort wirken malerisch, sind aber in einem schlechten Zustand. An jedem zweiten Balkon hängt eine ukrainische Fahne. Die 76-Jährige sitzt auf einem Hocker auf dem Trottoir und klagt. Sie wohne in der Nähe des Parlaments – zwei Nächte habe sie nicht schlafen können.

Sie ist überzeugt, dass es den Protestierenden gar nicht um das Agentengesetz gehe. «Dahinter steckt die Opposition, die wieder an die Macht will.» Im weiteren Verlauf des Gespräches wird klar: Die alte Frau verstrickt sich nicht nur in wilden Theorien – etwa, dass ausländische Mächte, ja vielleicht sogar Russland – Unruhen schüren möchten. Sondern sie hat vor allem eines: Angst. «Sie wollen Krieg, es wird Krieg geben.»

Ihre Worte sind wie ein Echo dessen, was auch die Regierung behauptet. Nämlich, dass die Opposition und die Zivilgesellschaft das Land in einen Krieg mit Russland treiben wollten.

Mann mit Flagge.
Legende: Die ukrainische Fahne ist in Tiflis allgegenwärtig. SRF/Judith Huber

Wenige hundert Meter entfernt, hinter dem Parlament, ist die Stimmung eine andere. Die georgische Nationalhymne ertönt – und die Menge, Jung und Alt, feiert und besingt mit Inbrunst die Freiheit des Landes.

Echo der Zeit, 11.03.2023, 18:00 Uhr

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