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Deutsches Verfassungsgericht Behinderte müssen bei Triage geschützt werden

Der deutsche Bundestag muss Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen im Fall einer Triage treffen.

«Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden»: So steht es in Artikel 3 des deutschen Grundgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe kommt zum Schluss, dass genau dieses Grundrecht verletzt worden sei.

Es reagiert damit auf eine Verfassungsbeschwerde, die eine Gruppe von Klägerinnen und Klägern mit schweren Beeinträchtigungen bereits im Sommer 2020 eingereicht hatte. Ist es aufgrund der Überbelastung der Spitäler nicht mehr möglich, alle Patientinnen und Patienten ausreichend zu versorgen, befänden sich die behandelnden Ärztinnen und Ärzte in einer extremen Entscheidungssituation, heisst es in der Mitteilung.

Personal in Spital mit Mundschutz
Legende: Das Wort Triage stammt vom französischen Verb «trier», das «sortieren» oder «aussuchen» bedeutet. Es beschreibt eine Situation, in der Ärzte entscheiden müssen, wen sie retten und wen nicht – zum Beispiel, weil so viele schwerstkranke Corona-Patienten in die Spitäler kommen, dass es nicht genug Intensivbetten gibt. Keystone

Sie müssten entscheiden, wer die knappen intensivmedizinischen Ressourcen erhalten solle – und wer nicht. Dabei dürfe einzig die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit der Patienten ausschlaggebend sein, hält das Gericht fest.

Doch sei Stand jetzt nicht auszuschliessen, dass es dabei zu Diskriminierungen komme. So könne es zum Beispiel passieren, dass eine Ärztin oder ein Arzt die Überlebenschance eines Menschen mit Behinderung fälschlicherweise zu niedrig einschätze. Schon unter normalen Umständen komme es oft vor, dass die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung falsch beurteilt werde und sie dadurch von medizinischen Entscheidungen benachteiligt würden.

Bundestag muss «unverzüglich» handeln

In der Extremsituation der Triage könne es für die Ärztinnen und Ärzte besonders fordernd sein, diese Menschen diskriminierungsfrei zu berücksichtigen. Das Gericht stützt sich bei seiner Beurteilung sowohl auf wissenschaftliche Studien wie die Einschätzungen von Fachpersonen und Sozialverbänden, die dazu Stellung nehmen durften.

Das Gericht erteilt dem Gesetzgeber – also letztlich dem deutschen Parlament – einen klaren Auftrag: Es brauche rechtlich verbindliche Richtlinien, die dafür sorgen, dass Benachteiligungen aufgrund einer Behinderung wirksam verhindert würden – und zwar unverzüglich.

Bis jetzt konnten sich Ärztinnen und Ärzte in Deutschland auf die Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) stützen. Doch das reiche nicht, so das Gericht: Es brauche eine klare gesetzliche Grundlage.

Deutsches Urteil für die Schweiz von Bedeutung

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Tanja Krones
Legende: Tanja Krones arbeitet am Universitätsspital Zürich. SRF

Tanja Krones hat als leitende Ärztin der Klinischen Ethik am Universitätsspital Zürich an den Triagerichtlinien mitgeschrieben. Und sie war auch an der Erstellung der Richtlinien in Deutschland beteiligt. Sie begrüsst das Urteil.

«Es ist gut, dass das Bundesverfassungsgericht sagt, dass der Gesetzgeber mit in der Verantwortung ist, sich um Schutzpflichten zu bemühen und sich auch inhaltlich mit den Fragestellungen auseinanderzusetzen.» Sie fordert, dass sich auch in der Schweiz der Gesetzgeber damit beschäftigt und die Medizinerinnen und Mediziner mit dem Thema Triage nicht alleine lässt.

Der Gesetzgeber habe dabei verschiedene Möglichkeiten, sagt Krones. «Zum Beispiel, indem er inhaltliche Kriterien mit vorgibt, aber auch, indem er sagt, es braucht ein bestimmtes Verfahren, zum Beispiel das Mehraugenprinzip.» Auch eine entsprechende Fort- und Weiterbildung des Gesundheitspersonals sei nötig, um einer Diskriminierung vorzubeugen. Zwar habe das Gericht in dem Urteil hervorgehoben, dass die inhaltlichen Kriterien für die Triage medizinische Kriterien sind und diese sehr gut dargestellt seien.

Doch es stellten sich auch nicht-medizinische Fragen wie: «Wenn man aufgrund der Knappheitssituation einen Patienten posteriorisiert – das heisst, er bekommt keine intensiv-medizinische Behandlung, sondern normale Stationsbehandlung – und er stirbt, ist das dann ein aussergewöhnlicher Todesfall? Und wer übernimmt die Verantwortung zu sagen, dass man in einer Knappheitssituation ist?» Wünschenswert wäre laut Krones, dass dies eine Instanz übernimmt, eine Behörde, der Bund oder der Kanton. «Das ist durch die Richtlinie nicht regelbar, da ist der Gesetzgeber in der Verantwortung.»

Rendez-vous, 28.12.2021, 12:30 Uhr

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