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Deutschland und Putins Gas «Frieren für die Freiheit» ist nicht so einfach

Die Idee des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck klang bestechend. Und solidarisch: Man könne auch mal ein bisschen frieren für die Freiheit und auf russische Energie verzichten, erklärte der alte Mann aus Rostock. Es war wenige Tage nach dem Überfall Putins auf die Ukraine, die ersten Geflüchteten trafen in Berlin ein, eine Welle des Mitgefühls ging durch Deutschland. Ja klar, ein bisschen frieren für die Freiheit, das kann man wirklich.

Wirklich? Jetzt, ein paar Wochen später, sieht man das nüchterner in Deutschland. Es ist mehr als «ein bisschen frieren». Die Industrie warnt: Wenn wir jetzt den russischen Gashahn zudrehen, geht die Wirtschaft zugrunde. In komplizierten Verfahren müssten Hochöfen ausgeschaltet werden, das dauert Tage, wenn nicht Wochen. Und nach dem Runterfahren sind die Öfen vielleicht sogar kaputt. Die sind nämlich nicht zum Abstellen, sondern zum Laufen gemacht.

Plötzlich fehlt es überall an allem

Den Menschen wird klar, wie alles zusammenhängt: Wenn Chemie-Gigantin BASF in Ludwigshafen runtergefahren wird, fehlt es plötzlich überall an Baustoffen oder Halbfabrikaten. Die Auto-Industrie könnte keine Windschutzscheiben mehr einkleben – also keine Autos mehr ausliefern –, der Nahrungsmittelindustrie fehlten wichtige Zutaten, die Pharmaindustrie litte.

Plötzlich fehlt es an allen Ecken und Enden. Der Wohlstand wäre in Gefahr, sagen viele, wir brauchen das Gas unbedingt. Der Grüne Wirtschafts- und Klimaminister reist nach Katar, um einen neuen Gaslieferanten zu finden. Aber ganz ersetzen kann man das russische Gas erst in ein paar Jahren.

Waffenlieferungen gegen das schlechte Gewissen

Wirtschaftsminister Robert Habeck weiss das, Kanzler Olaf Scholz auch. Ein totaler Boykott kommt also nicht infrage – lieber liefert man dafür Waffen an die Ukraine. Das lindert ein bisschen das schlechte Gewissen, immerhin finanziert man mit den Gasrechnungen Wladimir Putins Krieg mit. In den nächsten Tagen wird die Strategie also wohl bleiben: Kein Gas-Boykott, kein Zudrehen von Putins Pipeline.

Doch der Druck wächst: Die CDU will den Boykott schon lange – aber das ist einfacher zu fordern, wenn man keine Regierungsverantwortung trägt. Aber auch innerhalb von Scholz’ Ampel-Parteien rumort es, es gibt täglich neue Stimmen, die den Ausstieg aus dem russischen Gas fordern oder zumindest erwägen. Noch werden sie dafür abgestraft, wie jüngst Verteidigungsministerin Christine Lambrecht.

Moral oder Wirtschaft?

Am Mittwoch Punkt 13 Uhr wird man die Positionen im Bundestag einzeln besichtigen können: «Befragung der Bundesregierung» klingt harmlos, doch es wird zur Sache gehen: Wer steht wo? Wer beschwört die Moral, wer verteidigt die Wirtschaft? Maximaler Druck auf Kanzler Scholz.

Daneben brodelt die Frage, wer Deutschland diese Lage überhaupt eingebrockt hat. Der ukrainische Botschafter trommelt seit Tagen gegen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, dieser hat sich sogar schon erklärt und zugegeben, Putin falsch eingeschätzt zu haben. Auch Angela Merkel hat sich verteidigend erklärt – die Maxime ihrer Russland-Politik (wirtschaftliche Verbindungen garantieren den Frieden) gilt aber als total gescheitert.

«Frieren für die Freiheit», ja, das wäre fast schon romantisch gewesen. Aber die Realität ist, wie die Lebenserfahrenen wissen, selten romantisch.

Stefan Reinhart

Leiter der Ausland-Korrespondentinnen und -Korrespondenten

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Stefan Reinhart ist Leiter der Ausland-Korrespondentinnen und -Korrespondenten und Chef vom Dienst im Newsroom Zürich. Zuvor war er Deutschland-Korrespondent für SRF.

Hier finden Sie weitere Artikel von Stefan Reinhart und Informationen zu seiner Person.

Tagesschau, 5.4.2022, 19.30 Uhr

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