Die Corona-Krise ist auch eine Krise der Europäischen Union. Einer, der deshalb grosse Probleme auf die Union zukommen sieht, ist der Schweizer Ökonom Thomas Straubhaar.
SRF News: Wie sehr bedroht Corona die EU als Konstrukt so wie sie heute besteht?
Thomas Straubhaar: Für die EU, die ohnehin schon unter Druck steht, wird das zu einer der ganz grossen Herausforderungen werden. Es ist völlig offensichtlich geworden, dass nationale Interessen das Grosse Ganze überlagern. Die einzelnen Länder haben zuerst an sich selber und erst dann an die anderen gedacht. Egoismen haben das Tun bestimmt. Medial verbreitete Bilder zeigen, wie in einem Land die Menschen in Massen am Coronavirus sterben, während die andern sich nicht bemüssigt sehen, ihnen zur Seite zu springen.
Wieso soll es sich für Italien lohnen, in einer EU zu sein, wenn das Land in der Krise nicht auf deren Hilfe zählen kann?
Es ist genau das, was die südeuropäischen Länder jetzt empfinden. In der Eurokrise wurden sie gezwungen zu sparen und beim Sozial- und Gesundheitswesen abzubauen. Jetzt, in der Pandemie-Krise, sind sie viel schlechter ausgerüstet als etwa Deutschland. Ausgerechnet jetzt wird ihnen die Hilfe der reichen EU-Länder versagt. Das wird ein relativ einfaches Feld für populistische Strömungen, um ein antieuropäisches Feuer anzufachen.
Im Moment ist vieles denkbar, das ich noch vor einem Jahr nicht als reale Option eingestuft hätte.
Könnte die EU daran zerbrechen?
Das hoffe ich nicht! Aber im Moment ist vieles denkbar, das ich noch vor einem Jahr nicht als reale Option eingestuft hätte.
Könnte die Zukunft der EU halt doch in einer eher lockeren Wirtschaftsgemeinschaft liegen – so wie sie es einmal war – und nicht in einer vertieften Union?
Dieses Szenario hätte aus ökonomischer Sicht viel für sich. Man würde sich auf den Kern zurückbesinnen – den gemeinsamen Wirtschaftsraum. Ergänzt würde er vielleicht durch eine Monopol- und Wettbewerbsgesetzgebung. Doch mit der Währungsgemeinschaft und dem Euro besteht ein Konstrukt für 18 Länder, das weit über die ursprüngliche Wirtschaftsgemeinschaft hinausgeht. Dieses lässt sich nicht so rasch entwirren, wie das Ökonomen gerne hätten. Ausserdem würde es das ursprüngliche Ziel der EU, durch ein Zusammenwachsen nationale Spannungen zu überwinden, schmälern.
In der Krise werden europäische Strukturen zerschlagen.
Derzeit sind die grössten Errungenschaften der EU ausgesetzt: offene Grenzen für Personen, Waren und Dienstleistungen. Ist die EU also in einer doppelt schlechten Situation?
Nach dem Ende der Corona-Krise wird der Aufschwung leider tatsächlich stark verzögert, weil in der Krise europäische Strukturen zerschlagen werden. Das wird wie zusätzlicher Sand im Getriebe wirken.
Haben Sie ein Beispiel für die Absurdität geschlossener Grenzen?
Ich erlebe das jeden Tag: Wer vom Bundesland Hamburg nach Schleswig-Holstein oder umgekehrt fährt – das sind zwei zusammengewachsene Regionen wie etwa Bern und Muri bei Bern – muss der Polizei bei einer Kontrolle erläutern, warum diese Fahrt nötig ist. Wenn Sie also am Sonntagmorgen als Schleswig-Holsteiner in Hamburg Brötchen holen wollen, müssen Sie sich der Polizei erklären. Das zeigt, wie die Menschen in der Krise das Lokale betonen, während das Grosse Ganze in Europa geschwächt wird. Es wird lange dauern, das wieder zu stärken.
Das Gespräch führte Peter Voegeli.