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Drohende Invasion Russlands «Die Kriegsgefahr in der Ukraine ist nun real geworden»

Die Lage spitzt sich weiter zu: Mehrere Länder haben ihre Staatsangehörigen aufgefordert, die Ukraine so schnell wie möglich zu verlassen. Die USA, Russland und Deutschland ziehen einen Grossteil ihres diplomatischen Personals aus Kiew ab. Korrespondent David Nauer ordnet ein.

SRF News: Man hat das Gefühl, dass sich in der Ukraine-Krise in den letzten Stunden etwas verändert hat. Wie sind die Anordnungen an die jeweiligen Landsleute zu deuten?

David Nauer: Es hat sich durchaus etwas verändert, und zwar eindeutig zum Schlechteren. Die Geheimdienste der Amerikaner und anderer europäischer Nationen haben bisher davon gesprochen, dass Russland bald in der Lage sei, die Ukraine anzugreifen.

Inzwischen sagen die Amerikaner, Russland könne einen Angriff jederzeit durchführen. Das sehen unabhängige Militärexperten ähnlich. Das heisst, ein solcher Angriff kann jederzeit geschehen. Die Kriegsgefahr ist nun nicht mehr nur theoretisch – sie ist real geworden.

Laut US-Geheimdiensten steht eine russische Invasion kurz bevor – die Rede ist vom 16. Februar. Wie glaubwürdig sind solche Warnungen?

Ich habe Mühe mit diesem Datum. Es heisst, die CIA habe einen russischen Funkspruch abgefangen. Vielleicht hat da ein russischer Offizier einem anderen gesagt: «Am 16. Februar geht es los». Daraus wird dieses Datum abgeleitet und in US-Medien publiziert.

Putin verdreht die Realität in nahezu grotesker Art und Weise.

Die amerikanischen Warnungen klingen plausibel, es gibt ja wirklich eine Kriegsgefahr. Aber bei den Details sind die Amerikaner auffällig explizit – da entsteht der Eindruck einer psychologischen Kriegsführung. Man will den Russen wohl einen Strich durch die Kriegsrechnung machen und einem Angriff mit lauten Ankündigungen zuvorkommen.

Der russische Präsident Putin spricht von einer Hysterie im Westen. Bis heute ist tatsächlich kein einziger Schuss gefallen. Hat Putin einen Punkt?

Nein, das denke ich nicht. Putin verdreht die Realität in nahezu grotesker Art und Weise. Denn es ist ja nicht der Westen, der über 100'000 Mann und schweres Kriegsgerät mobilisiert hat.

125'000 russische Soldaten stehen bereit

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Laut UN-Schätzungen sind im Konfliktgebiet bisher mehr als 14'000 Menschen gestorben, die meisten von ihnen laut Statistiken auf der von prorussischen Separatisten kontrollierten Seite. Die Hoffnungen in Donezk und Luhansk sind gross, dass im Fall einer Offensive von ukrainischer Seite Russlands Präsident Putin seine in der Nähe stationierten Truppen in Gang setzt, um sie zu retten. 125'000 russische Soldaten und Kampftechnik stehen bereit.

Moskau tut quasi so, als ob nicht derjenige der Aggressor ist, der die Streitmacht an die Grenze des Nachbarn stellt, sondern derjenige, der vor einem Krieg warnt. Das ist, wie wenn einer in einem brennenden Haus den Feueralarm auslöst und man ihn nachher beschuldigt, er habe das Feuer angeheizt.

Und doch warnt selbst der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski vor Panikmache und fordert Belege für den drohenden Angriff.

Das stimmt – Selenski verfolgt jedoch andere Interessen. Er muss im Land Panik verhindern, auch um die Wirtschaft der Ukraine nicht abzuwürgen. Das ist wohl der Hintergrund für seine eher zurückhaltenden Äusserungen. Zudem bereiten sich die ukrainische Gesellschaft und insbesondere das Militär derzeit durchaus auf einen russischen Angriff vor.

Diplomatische Drähte laufen heiss

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Inmitten der zugespitzten Lage gehen die diplomatischen Bemühungen um eine Lösung des Ukraine-Konflikts weiter. Am Samstag telefonierte US-Präsident Joe Biden mit Russlands Staatschef Wladimir Putin. Das Gespräch habe etwa eine Stunde gedauert, teilte das Weisse Haus in Washington mit.

Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron telefonierte laut Élyséekreisen am Samstagnachmittag mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz, nachdem Macron zuvor ebenfalls mit Putin gesprochen hatte. Der französische Staatschef wollte danach am Abend sowohl mit Biden als auch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski über den Konflikt sprechen. Scholz wiederum will sich am Montag mit Selenski in Kiew und am Dienstag mit Putin in Moskau treffen.

Immerhin scheint die Diplomatie noch nicht am Ende, es gibt weiterhin Gespräche. Wie ist diese Diskussionsbereitschaft zu interpretieren?

Es ist gut, dass Biden, Macron oder auch Scholz mit Putin reden und Putin das Telefon noch abnimmt. Allerdings schwinden meiner Meinung nach die Chancen für eine diplomatische Lösung des Konflikts.

Die Diplomatie ist die einzige Hoffnung auf Frieden in der Ukraine – doch diese Hoffnung wird immer kleiner.

Die Positionen Russlands und jene des Westens sind seit langem bekannt und keine Seite ist bereit, sich in relevanten Punkten zu bewegen. Dazu kommt, dass der Ton immer gehässiger wird und die Russen an der ukrainischen Grenze weiter aufrüsten. Die Diplomatie ist somit die einzige Hoffnung auf Frieden in der Ukraine – doch diese Hoffnung wird immer kleiner.

Das Gespräch führte Dominik Rolli.

Echo der Zeit, 12.02.2022, 18:00 Uhr ; 

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