Die ukrainischen Waffenreserven gehen zur Neige. Gleichzeitig will die russische Armee militärisch Fakten schaffen: In der Nacht hat sie rund 150 Raketen und Drohnen auf Energieanlagen und Infrastruktur in der Ukraine abgefeuert.
Es waren die seit Monaten schwersten Luftangriffe auf die ukrainische Energieversorgung. In nahezu allen Landesteilen herrschte in der Nacht Luftalarm. Judith Huber, Sonderkorrespondentin für die Ukraine, über das russische Kalkül und den ukrainischen Widerstand.
SRF News: Was ist in der Nacht genau geschehen?
Judith Huber: Es hat massive Luftschläge gegeben. Unter anderem hat die russische Armee ballistische Raketen abgefeuert, sogar solche vom besonders gefährlichen Typ Kinschal. Zudem gab es zahlreiche Drohnenangriffe. Die Russen haben die Energieinfrastruktur im ganzen Land ins Visier genommen. Mehrere Personen wurden dabei getötet. In der Grossstadt Charkiw gab es einen kompletten Blackout. Auch die Wasserversorgung und der öffentliche Verkehr wurden gestört. Besonders besorgniserregend ist, dass die russischen Streitkräfte auch das grösste Wasserkraftwerk der Ukraine angegriffen haben.
Wie schwer die Schäden sind, ist noch unklar. Das Kraftwerk und auch der Damm standen am Morgen in Flammen. Ebenso ist unklar, wie gross die Gefahr ist, dass der Damm brechen könnte. Durch den Angriff wurde auch eine Stromleitung gekappt, die zum Atomkraftwerk Saporischja führt. Es soll zwar eine Ersatzleitung geben, die die Stromversorgung gewährleistet. Aber das alles ist hochgefährlich.
Russland intensiviert offenbar die Luftschläge. Wie gut kann sich die ukrainische Armee noch verteidigen?
Die Luftschläge der Nacht betrafen nicht die Front, sondern Städte, Ortschaften und die zivile Infrastruktur. Das alles wird von der ukrainischen Luftabwehr geschützt. Sie tun, was sie können.
Russland versucht mit riesigen Angriffswellen, die Vorräte der Ukraine zur Luftabwehr zu erschöpfen.
Zwar ist es insgesamt unmöglich, das gesamte, riesige Territorium der Ukraine zu verteidigen. In den letzten Monaten hat es die ukrainische Luftabwehr aber doch geschafft, viele der Raketen und Drohnen abzufangen – unter anderem wegen der teuren Luftabwehrsysteme, die die Ukraine aus dem Westen erhalten hat.
Der Nachschub an diesen Waffensystemen stockt allerdings. Russland versucht nun, mit riesigen Angriffswellen die Vorräte der Ukraine zu erschöpfen. Denn der Kreml weiss genau, dass vor allem die Blockade der Gelder in den USA dazu führt, dass der Ukraine die nötigen Abwehrwaffen langsam ausgehen.
Russland soll offenbar wieder Hyperschallraketen vom Typ Kinschal eingesetzt haben. Diese können nur von amerikanischen Patriot-Raketen abgefangen werden. Was passiert, wenn keine weitere Hilfe aus den USA kommt?
Das wäre verheerend. Denn genau diese Patriot-Raketen werden zum Schutz urbaner Räume eingesetzt. Ein Beispiel: Wenn die Ukraine diese Woche den russischen Angriff auf Kiew nicht hätte abwehren können, wäre ein Teil des Zentrums der Hauptstadt buchstäblich zerstört worden. Es hätte unzählige Tote gegeben.
Russland hat allein bei diesem Angriff 31 Raketen auf Kiew abgefeuert. Glücklicherweise wurden alle unschädlich gemacht. Aber nur schon durch die Trümmer wurden Menschen verletzt. Deshalb sagt die Ukraine, dass sie dringend mehr Luftabwehrsysteme braucht – und das so bald wie möglich.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.