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Eingekesselt in Gaza-Stadt MSF-Helferin: «Ich will ehrlich sein, es ist ein Massaker»

Die neue israelische Bodenoffensive verschlimmert die prekäre humanitäre Situation in Gaza-Stadt. Palästinenserinnen und Palästinenser sowie Hilfswerke seien teils eingekesselt. Gebiete würden ohne Benachrichtigung bombardiert, es gebe viele Tote, sagt die medizinische Leiterin, Sonam Dreyer-Cornut, von Médecins Sans Frontières, die vor Ort in Gaza-Stadt Hilfe leistet.

Sonam Dreyer-Cornut

Medizinische Leiterin, Médecins Sans Frontières

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Die Walliserin Sonam Dreyer-Cornut ist medizinische Leiterin von Médecins Sans Frontières. Sie ist zurzeit in Gaza-City und leistet dort humanitäre Hilfe.

SRF News: Wie kriegen Sie die Offensive mit?

Sonam Dreyer-Cornut: Das israelische Militär ist ein paar Kilometer entfernt, man hört sie sehr gut und sie rücken vor. Man kann sowohl die Marine als auch die Bodenkämpfer und die Luftangriffe hören.

Sie stecken im Spital mitten in Gaza-Stadt und kümmern sich um Verletze. Wie lange bleiben Sie?

Wir versuchen, so lange wie möglich durchzuhalten. Wir sind eigentlich nur noch ein paar Leute.

Wir sind im Moment wie in einem Schraubstock gefangen.

Einige NGOs mussten gehen, weil ihre Gebiete bombardiert wurden und sie ihre Gesundheitszentren nicht mehr öffnen oder bewachen können. Wir sind im Moment wie in einem Schraubstock gefangen, sind fast umzingelt, auf der Nordseite und auf der Ostseite. Wir machen ein stündliches Monitoring, um zu sehen, wie weit die Bodentruppen vorrücken und wann wir es nicht mehr aushalten können, weil sie zu nah sind.

Wie steht es um die Menschen, die noch da sind?

Wir haben etwa 800'000 Menschen, die noch hier und im Prinzip blockiert sind. Die Mehrheit davon hat nicht die Mittel, um sich so zu evakuieren.

Alles ist verstopft: Eine Strecke, die wir in etwa 30 Minuten geschafft haben, dauert jetzt vier bis fünf Stunden.

Dazu sagen viele, dass der Süden sowieso nicht sicherer ist. Alles ist verstopft: Eine Strecke, die man zuvor in etwa 30 Minuten geschafft hat, dauert jetzt vier bis fünf Stunden. Es gibt eigentlich keine Zelte mehr, und die wenigen, die es gibt, kosten 1000 Franken. Es gibt nicht einmal mehr eine Kunststofffolie, um sich eine Unterkunft zu bauen.

Wie ist die Lage seit der Offensive?

Besonders in den letzten Tagen werden täglich Gebiete ohne Benachrichtigung bombardiert. Es gibt viele Tote und viele Verletzte. Gestern beispielsweise wurden drei nicht weit entfernte Gebäude ohne Vorwarnung bombardiert, es befanden sich noch Dutzende Familien darin.

Ich will ehrlich zu Ihnen sein, es ist ein Massaker.

Da die Menschen nicht wissen, wohin sie gehen sollen und sich nicht bewegen können, bleiben sie – in der Hoffnung, dass sie noch nicht an der Reihe sind. Ich will ehrlich zu Ihnen sein, es ist ein Massaker.

Frau mit violettem Kopftuch, emotional betroffen.
Legende: Eine Frau trauert während der Beerdigung von Palästinenserinnen und Palästinensern, die laut Angaben von Medizinern bei nächtlichen israelischen Angriffen ums Leben gekommen sind, im Al-Shifa-Spital in Gaza-Stadt (17.9.2025) Dawoud Abu Alkas/Reuters

Überall gibt es Bombardements, es werden Gebäude zerstört, die Menschen sind gefangen. Als Folge davon sterben die meisten von ihnen tatsächlich unter den Bombenangriffen, weil sie nicht fliehen konnten. Oder weil sie versucht haben, zu fliehen, aber dadurch in die Falle geraten sind.

Wie sieht ihre Arbeit derzeit aus?

Wir haben ungefähr 300 Patienten pro Tag, die zur Notfallversorgung von Wunden und Verbrennungen und zur postoperativen Nachsorge kommen. Wir waren ein Tageszentrum, das heisst, wir haben die Patienten eigentlich tagsüber aufgenommen.

Die einzigen verbleibenden Spitäler haben einen massiven Zustrom von Verletzen.

Seit Anfang Woche haben wir auch eine Nachtschicht, um so viel wie möglich abdecken zu können und um so Plätze in den einzigen Spitälern, die es noch gibt, freizumachen. Denn diese haben einen massiven Zustrom von Verletzten.

Was sagen die Leute dazu?

Mein Eindruck ist, dass es darum geht, sich selbst Energie zu geben – man sagt sich, dass es irgendwann in der Geschichte wieder gut wird. Aber alle sind sich darüber im Klaren, dass die Situation nicht besser wird, sondern sich verschlimmert. Sie werden Gaza-Stadt einnehmen, egal was passiert. Viele wissen, dass sie wohl doch wieder nach Süden vertrieben werden.

Das Gespräch führte Benedikt Hofer.

SRF 4 News, 17.09.2025, 12:30 Uhr ; 

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