Israel hat die lange angekündigte Offensive auf Gaza begonnen. Ziel sei es, die Hamas-Kräfte «auszuschalten», so die Armee. ARD-Korrespondent Julio Segador schildert die aktuelle Situation.
SRF News: Was wissen Sie über den aktuellen Angriff der Israelis?
Julio Segador: Der Gürtel um Gaza, die grösste Stadt im Gazastreifen, wird immer enger. Die israelischen Truppen rücken aus Norden, Osten und Süden vor. Man erwartet einen Häuserkampf, einen Guerillakrieg. Der Druck auf die verbliebenen Hamas-Kämpfer nimmt zu – aber natürlich auch der Druck auf die Zivilbevölkerung. Denn noch immer befinden sich Hunderttausende in Gaza-Stadt.
Das Militär geht von 3000 Hamas-Kämpfern aus. Wie kommt es auf diese Zahl?
Das ist eine Schätzung. Zu Beginn des Krieges im November 2023 war die Armee von bis zu 30'000 Hamas-Kämpfern ausgegangen. Womöglich hat man jetzt ausgerechnet, wie viele von ihnen inzwischen getötet worden sind, und so kommt man auf rund 3000 verbliebene Kämpfer. Das zeigt: Die Einnahme von Gaza-Stadt wird alles andere als einfach.
Was bedeutet die israelische Offensive für die Zivilbevölkerung?
Sie kann sich im Grunde kaum verstecken, die Menschen sind mittendrin. Hinzu kommt die Kriegstaktik der Terrororganisation Hamas: Sie nistet sich in zivilen Bereichen ein, um von dort aus Israel zu beschiessen oder gegen das israelische Militär zu kämpfen.
Israel kalkuliert mit ein, dass immer wieder zivile Opfer zu beklagen sind.
Für die israelischen Soldaten ist es so sehr schwierig, Kämpfer von Zivilisten zu unterscheiden. Entsprechend viele zivile Opfer sind auf palästinensischer Seite zu beklagen. Man muss aber auch sagen, dass das israelische Militär diese Kriegsführung akzeptiert – und damit einkalkuliert, dass immer wieder zivile Opfer zu beklagen sind.
Wo befinden sich denn die 350’000 Palästinenserinnen und Palästinenser, die aus der Stadt geflüchtet sind?
Sie sind unterwegs in einem langen Treck in Richtung Süden des Gazastreifens, nach Al-Mawasi. Das ist eine der von Israel so bezeichneten «Sicherheitszonen». Allerdings haben sich diese Gebiete in der Vergangenheit nicht als wirklich sicher erwiesen. In Al-Mawasi sollen die Leute versorgt werden. Doch in dem Gebiet befinden sich jetzt schon sehr viele Flüchtlinge. Es wird eine riesige Herausforderung werden, Hunderttausende von Menschen zu versorgen.
Wie reagiert die israelische Bevölkerung auf die neuesten Angriffe auf Gaza?
Das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung steht nicht im Vordergrund. Dafür sind die Wunden, die der 7. Oktober 2023 hinterlassen hat, noch viel zu tief. Die Empathie der Israelis gilt vor allem den offiziell 48 Geiseln, die immer noch im Gazastreifen festgehalten werden. Wie viele von ihnen noch leben, weiss niemand. Schätzungen gehen davon aus, dass noch 20 Personen am Leben sind. Deshalb fordern weite Teile der israelischen Bevölkerung einen Deal mit der Hamas, damit der Krieg ein Ende findet und die noch lebenden Geiseln zurückkehren.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.