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Vormarsch der Taliban Ex-Nato-General: «Fall von Kabul ist nur eine Frage der Zeit»

Bereits über die Hälfte der afghanischen Provinzhauptstädte sind in der Hand der Taliban. Einschätzungen und Beobachtungen des ehemaligen deutschen Nato-Generals Egon Ramms.

Egon Ramms

Nato-General a.D.

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Egon Ramms ist General a. D. der Bundeswehr. Er war vom Januar 2007 bis September 2010 Oberbefehlshaber des «Allied Joint Force Command» im niederländischen Brunssum. Er leitete bis 2010 die Mission der International Security Assistance Force ISAF der Nato in Afghanistan.

SRF News: Sind sie überrascht vom Tempo des Eroberungszugs?

Egon Ramms: Es überrascht tatsächlich, wie rasch die Taliban eine Provinzstadt nach der anderen einnehmen. Ebenso erstaunen die Bilder von Taliban-Kämpfern mit Fahrzeugen des nationalen Sicherheitsdienstes oder der Armee.

Hat man die Taliban unterschätzt?

Offensichtlich ja. Die Taliban waren gerade auch in Kandahar immer sehr aktiv. Mit der aktuellen Strategie fassen sie nun die Gruppen zusammen, die zuvor fast immer getrennt und auf sich allein gestellt arbeiteten.

Warum haben die zahlenmässig massiv überlegenen Regierungstruppen keine Chance?

Die Regierungstruppen müssten auch ausbildungs- und ausrüstungsmässig überlegen sein. Dies zahlt sich offensichtlich nicht aus. Daraus kann ich nur den Schluss ziehen, dass deren Kampfmoral nicht herausragend ist.

Ist es dem Westen misslungen, die Truppen für die Selbstverteidigung auszubilden?

Es liegt an der Moral. Die Ausbildungsarbeit war gut. Sie begann, als die Nato 2006 die Gesamtverantwortung für Afghanistan übernahm. 2009 wurde die Arbeit nochmals deutlich intensiviert. Die Ausbildung wurde auf Truppenebene 2014 mit dem Ende von ISAF beendet. Danach wurden nur noch Stäbe ausgebildet. Das hat offensichtlich doch erhebliche Nachteile gebracht.

Es liegt an der Moral. Die Ausbildungsarbeit war gut.

Dazu kommt: Die Mannschaftsdienstgrade der afghanischen Streitkräfte erneuern sich alle drei Jahre. In der Ausbildungszeit bis 2014 gab es somit zweimal einen kompletten Personalwechsel. Die Soldaten, die heute gegen die Taliban kämpfen sollen, haben – zumindest auf Truppenebene – von dieser Ausbildung nicht mehr profitiert.

Warum mangelt es an Moral?

Wir machten die Erfahrung bereits 2006 bis 2010. Die Moral war immer gut, wenn Soldaten aus anderen Ländern mit den afghanischen Einheiten zusammen waren, denn diese wollten ihr Gesicht nicht verlieren. Dieses Prinzip gab man 2014 auf. Die Truppenteile wurden sich selbst überlassen. Offensichtlich wurde es dann einfacher, die Waffe wegzuwerfen und wegzulaufen, statt zu kämpfen.

Es ist nicht die erste Militärintervention, die scheitert, welche die USA mit Verbündeten oder alleine durchführten. Hat man aus Fehlern nichts gelernt?

Man bekommt manchmal sogar den Eindruck, dass man Fehler wiederholt. Das hat auch mit unseren demokratischen Prinzipien zu tun. Man muss die Bevölkerung mitnehmen, wenn es um so lange Einsätze geht. Vielleicht fehlte es da an Überzeugungsarbeit, und die Politik hat dies auch nicht konsequent genug mitgetragen. Das zeigt etwa die Diskussion in Deutschland, wonach die Soldaten dort Brunnen bohrten und Schulen bauten. Diese Meinung änderte sich erst 2010 aufgrund der Ereignisse von 2009. Das war in anderen Ländern ähnlich.

Soll der Westen neue Truppen schicken?

Der Zeitpunkt wurde verpasst, neue Truppen zu entsenden. Da ist auch die US-Ankündigung nicht überzubewerten, erneut 3000 Soldaten zu entsenden. Denn diese werden wohl nur den sicheren Abzug des US-Personals und von Zivilisten aus dem Botschaftsbereich und aus dem Kabuler Flughafen sicherstellen.

Der Zeitpunkt wurde verpasst, neue Truppen zu entsenden.

Ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis Kabul fällt?

Ja. Aber Kabul wird länger dauern, weil die Hauptstadt sehr gross und unübersichtlich ist. Falls die Regierung Truppen nach dem Fall von anderen Städten auf Kabul zurückzieht,  könnte es länger dauern.

Das Gespräch führte Christina Scheidegger.

Echo der Zeit, 13.08.2021, 18:00 Uhr ; 

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