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Ethnische Klientelpolitik Wahlen im tief gespaltenen Bosnien und Herzegowina

Rund 3.3 Millionen Bürger in Bosnien und Herzegowina wählen am Sonntag die dreiköpfige Staatsspitze. Daneben bestimmen sie das Bundesparlament und die Parlamente in den beiden Landesteilen. Bosnien und Herzegowina ist eines der korruptesten und ärmsten Länder in Europa. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 16 Prozent und immer mehr Menschen verlassen das Land. Allein letztes Jahr waren es etwa 170’000 Menschen.

Ethnische Klientelpolitik

Die schwierige wirtschaftliche Situation, die Inflation, der Umweltschutz, aber auch die Korruption waren zwar Themen im Wahlkampf. Aber es habe kaum Antworten auf diese Fragen gegeben, sagt die Historikerin Marie-Janine Calic von der Ludwig-Maximilian-Universität in München. «Das würde voraussetzen, dass man gemeinsam Reformen in Angriff nimmt und sich von der ethnischen Klientelpolitik verabschiedet.»  

Das Balkanland leidet unter den Gegensätzen zwischen den Nationalparteien der muslimischen Bosnier, die etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, den orthodoxen Serben (ein Drittel der Bevölkerung) und den katholischen Kroaten (15 Prozent). Zudem strebt der serbische Landesteil die Abspaltung von Bosnien an.

Viele glauben, dass nur ihre Partei ihre Interessen gut vertreten kann und dass die anderen Volksgruppen sie übervorteilen wollen.
Autor: Marie-Janine Calic Historikerin

Das politische System in Bosnien beruhe auf diesem ethnischen Prinzip, auf Machtteilung zwischen den drei staatsbildenden Völkern. Dadurch seien die Parteienlandschaft, die Gesellschaft und die Wirtschaft ethnisch geschichtet, erklärt die Historikerin Calic: «Viele glauben, dass nur ihre Partei ihre Interessen gut vertreten kann und dass die anderen Volksgruppen sie übervorteilen wollen.» 

Darum wählen die meisten Menschen Kandidaten aus ihrer Volksgruppe. Das Interesse für das ganze Land fehlte im Wahlkampf fast vollständig. «Die Parteien haben gar kein Interesse, etwas zu verändern. Im Gegenteil versuchen sie immer mehr Elemente einzuführen, die dieses ethnische Prinzip noch stärken, zum Beispiel im Wahlrecht», sagt Calic.

Kein Abschluss mit der Geschichte

Die Spuren des Krieges sind in Bosnien und Herzegowina allgegenwärtig. 27 Jahre nach dem Bürgerkrieg ist das Land immer noch tief gespalten. Auch in der Stadt Mostar gab es 12 Jahre lang keine Lokalwahlen und keinen Stadtpräsidenten. Im Gymnasium wird auch 27 Jahre nach dem Krieg noch immer getrennt unterrichtet: katholische Kroaten in einem Schulzimmer, muslimische Bosniakinnen in einem anderen. 

Im Dorf Ledinac ganz in der Nähe von Mostar verehrt man immer noch die kroatischen Kriegsgeneräle. Aber seit dem Krieg hat ein Drittel der Menschen das Dorf verlassen. Zana Alpeza ist geblieben. Mit ihrem Verein «Der rechte Pfad» kämpft sie gegen die Abwanderung. «So viele leere Häuser hier im Dorf. In den Gärten spielen keine Kinder mehr. Und es gibt auch immer weniger alte Menschen.»

Enttäuscht ist auch Mirhunisa Sukic. Sie leitet eine Organisation, die bosnischen Kriegsflüchtlingen hilft, in ihre Heimatdörfer zurückzukehren. «Viele wollten zurückkehren, aber sie wurden diskriminiert, bekamen etwa keine Arbeitsstellen.» Viele verlieren die Geduld und wandern aus, vor allem aber die junge Generation. 

«Wer gegen dieses ethnische System ist, geht häufig gar nicht wählen. Und viele haben das Land einfach schon verlassen», stellt auch Historikerin Calic fest. Statt wählen zu gehen, «wählten viele mit den Füssen» und verliessen das Land. Laut der UNO ist Bosnien und Herzegowina jenes Land auf der Welt, das in den letzten zehn Jahren den grössten Teil seiner Bevölkerung durch Auswanderung verloren hat. Und eine Umkehr dieses Trends ist nicht abzusehen.

Echo der Zeit, 1.10.2022, 18:00 Uhr ; 

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