Nie seit den allerersten Tagen des russischen Angriffskrieges Ende Februar sind so viele Raketen auf ukrainische Städte gefallen wie im Verlauf des heutigen Morgens. Nie zuvor schlugen Russlands Raketen so zentral in der ukrainischen Hauptstadt Kiew ein. Gemäss aktuellsten Zahlen hat die russische Armee bereits über 80 Raketen in alle Landesteile der Ukraine abgefeuert.
Von Dnipro, Charkiw, Kiew bis ganz in den Westen nach Lwiw waren heute Morgen Explosionen zu hören. Mehr als die Hälfte der Raketen konnte die ukrainischen Streitkräfte laut eigenen Angaben abschiessen, bevor diese ihr Ziel erreichten. Doch für einen wirklichen Schutz der Zivilbevölkerung bräuchte die ukrainische Armee Kampfjets und Luftabwehrsysteme der neueren Generation.
Zivilisten und Kraftwerke im Visier
Die Wucht, mit welcher die russische Armee versucht Angst und Schrecken zu verbreiten, kommt nicht von ungefähr: Hier handelt es sich klar um eine Vergeltungsaktion seitens des russischen Präsidenten für den Angriff auf die Brücke von Kertsch von vorgestern Samstag. Der russische Präsident bezeichnete den Angriff auf die Brücke als «terroristischen Akt» und nimmt ihn als Vorwand, um zivile Infrastruktur in allen Teilen der Ukraine anzugreifen.
So kamen laut dem ukrainischen Präsidenten heute bei den Angriffen der russischen Armee vor allem Zivilisten und Kraftwerke im ganzen Land zu Schaden. Auch wenn das Raketenarsenal der russischen Armee nicht gross genug ist, als dass ein solcher Raketenhagel tagtäglich auf die Ukraine abgefeuert werden könnte, so ist die Drohkulisse mehr als deutlich. Damit soll den Menschen in der Ukraine klargemacht werden, dass sie allen Fortschritten der ukrainischen Armee an der Front im Osten und im Süden des Landes zum Trotz nicht in Sicherheit sind.
Angriffe mit Kalkül
Die Raketenangriffe auf das Stadtzentrum sind zudem eine klare Drohung an den ukrainischen Präsidenten. Der Kreml möchte damit demonstrieren, dass die ukrainische Luftabwehr Angriffe auch auf das Zentrum der Hauptstadt aktuell nicht verhindern kann. Mit jeder Rakete, die einschlägt, macht Russland deutlich, dass auch eine taktische Atomwaffe am selben Ort hätte einschlagen können.
Wenn auch wenig wahrscheinlich, so lässt sich diese Drohung weiterhin nicht gänzlich ignorieren. Auch wenn der russische Präsident mit keinen Raketen den Widerstand der Ukrainerinnen und Ukrainern brechen können wird, je mehr die zivile Infrastruktur zu Schaden kommt, umso härter wird der bevorstehende Winter für alle im Land. Vermehrte Angriffe auf Infrastruktur fern von strategischer und militärischer Bedeutung scheinen für die absehbare Zukunft sehr wahrscheinlich.
Denn am vergangenen Wochenende ist Sergej Surowikin zum Befehlshaber über die Invasionstruppen ernannt worden. Bekannt wurde der russische Armeegeneral Surowikin für die Zerstörung der syrischen Stadt Aleppo.