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Flucht aus Gaza-Stadt «Ganz ehrlich: Wir haben im Moment keine Gefühle»

Die israelische Armee treibt ihren Angriff auf Gaza-Stadt mit aller Härte voran. Hunderttausende mussten in den vergangenen Tagen fliehen. Betroffene erzählen.

Der Arzt Bassam Zaqout koordiniert die Arbeit der Palestinian Medical Relief Society (PMRS) in Gaza. Die NGO betreibt in den besetzten palästinensischen Gebieten mehrere Kliniken. Vor wenigen Tagen habe ein Stadtbewohner einen Anruf der israelischen Armee erhalten: Das Gesundheitszentrum nebenan müsse sofort geräumt werden, man erhalte dafür 20 Minuten Zeit.

«Das Gebäude war voller Patienten», erzählt Doktor Zaqout via Zoom. «Die Angestellten führten alle Anwesenden hinaus und versuchten, sie in Sicherheit zu bringen. Dann sahen sie zu, wie israelische Raketen das Gebäude trafen und es vollständig zerstörten.»

Fast pausenlose Bombardierungen

Die Lage in der Stadt ist katastrophal. Zaqout sagt, es gebe kein Wasser, kein Essen und keinen Strom. Dazu kommen fast pausenlose Bombardierungen und der Vormarsch der israelischen Bodentruppen. Zu Wochenbeginn ist er in den Süden geflohen. Die Menschen glaubten nicht, dass sie jemals nach Gaza-Stadt zurückkehren würden. «Jetzt ist eine vollständige Zerstörung im Gange, und die Vertreibung der Einwohnerinnen und Einwohner. Was danach kommt, wissen wir nicht. Aber es wird nicht das Ende sein. Ehrlich gesagt: Wir sind todmüde.»

Menschen in Decken gehüllt am Strand, umgeben von Habseligkeiten.
Legende: Palästinenser fliehen aus Nord-Gaza (25.9.2025) Reuters/Ebrahim Hajjaj

Auch die 26-jährige Serena ist mit ihrer Familie in den Süden geflüchtet. «Mein Vater hatte Angst und sagte, wir müssten die Stadt verlassen. Um ein Uhr nachts sind wir aufgebrochen. Es war dunkel, der Himmel leuchtete rot wegen der Bombardements. Wenn ich daran zurückdenke, frage ich mich: Wie haben wir diese Nacht nur überlebt?»

Die Palestinian Medical Relief Society (PMRS)

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Allein diese Woche sind drei Einrichtungen der PMRS in Gaza-Stadt bombardiert worden, eine davon war die Zentrale der Organisation mit einer Klinik für chronisch Kranke. Laut Bassam Zaqout, der die Aktivitäten der NGO in Gaza koordiniert, sind seit Kriegsbeginn neun Einrichtungen der PMRS durch israelische Angriffe ganz oder teilweise zerstört worden. Derzeit werde evaluiert, in welchem Umfang die Tätigkeiten der PMRS in Gaza-Stadt aufrechterhalten werden könnten, sagt Zaqout. Die Organisation hat auch mobile Nothilfeteams im Einsatz.

Zaqout glaubt, dass die medizinischen Einrichtungen gezielt angegriffen werden von der israelischen Armee. Israel will, dass alle Bewohnerinnen und Bewohner Gaza-Stadt verlassen. «Doch solange die medizinische Versorgung gewährleistet ist, fühlen sich die Leute sicher genug, zu bleiben.» Seine Organisation sei bekannt und gut etabliert. Er glaube, die Israeli wollten nicht, dass es in Gaza-Stadt weiterhin medizinische Dienstleistungen gebe.

Serena und ihre Familie flohen im Auto. Auf der völlig verstopften Strasse hätten sie viele Menschen gesehen, die Kleider, Matratzen und Decken trugen. Verletzte und Schwangere, die im Dunkeln zu Fuss unterwegs waren. Menschen seien auf der Strasse gesessen, andere umhergeirrt auf der Suche nach einer Bleibe, einem Zelt. Serena hat Glück: Ihre Familie hat eine Wohnung gefunden. Das Leben im Zelt bleibt ihr erspart.

Ein Zelt für 1400 Dollar

Noch auf der Suche nach einer Bleibe für sich, seine zwei Kinder und seine Frau ist Ibrahim. Zu Fuss ging der 40-Jährige zunächst allein Richtung Süden. So, wie es die israelische Armee verlange. Zwei Tage habe er nach einem Ort gesucht, aber keinen gefunden. Alles sei überfüllt.

Menschen gehen durch Trümmer eines eingestürzten Gebäudes.
Legende: Anwohner treffen sich bei in einem von Israel bombardierten Gebäude (22.9.2025). Reuters/Ebrahim Hajjaj

Doch selbst, wenn er einen freien Flecken fände: «Den Luxus, ein Stück Land zu mieten, habe ich nicht. Mir fehlt sogar das Geld für ein Zelt. Jetzt suche ich nach einem Plätzchen auf der Strasse.» Ein Zelt koste derzeit um die 1400 Dollar, sagt Ibrahim. Für viele unerschwinglich.

Die Erschöpfung, die Verzweiflung ist in allen Gesprächen spürbar. Geradezu fehl am Platz scheint die simple Frage: Wie fühlen Sie sich? «Ganz ehrlich», sagt Ibrahim: «Im Moment haben wir keine Gefühle. Als Mann weine ich tagelang, aber nicht vor meiner Frau und meinen Kindern.» Er könne es sich nicht leisten, seine Gefühle mit seiner Familie zu teilen.

Echo der Zeit, 25.9.2025, 18 Uhr

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