Die Bank von England prognostiziert für das Vereinigte Königreich die grösste Rezession seit 30 Jahren. Das trifft die ganze Gesellschaft – aber ganz besonders die Jugend. Geschlossene Schulen, ausgefallene Examen, fehlende Arbeitsplätze – erste Prognosen und Studien zeigen, dass die Pandemie das Berufsleben einer ganzen Generation prägen könnte.
Pagageienfische, Perücken, afrikanisches Wurzelgemüse: Das Angebot in der Atlantic Street in Brixton im Süden von London ist farbig und vielfältig wie immer. Doch der Alltag zwischen den Marktständen ist so maskiert wie distanziert. «Protect yourself» warnt ein Plakat. «Closed» steht auf dem Rollladen daneben.
Viele Läden sind zu – und werden es wohl für immer bleiben. Auch die Kneipe, in der Geoffry als Kellner gearbeitet hat. Das Lokal hat den Lockdown nicht überstanden. Der 23-jährige Student mit der Rasta-Frisur ist arbeitslos.
«In normalen Zeiten kann man in ein Pub marschieren und beginnt am nächsten Tag zu arbeiten. Doch im Moment gibt es nicht einmal mehr die einfachsten Jobs. Das schlägt auf die Stimmung.» Er verschicke Dutzende von Bewerbungen. Wenn er eine Antwort kriege, dann Absagen. Das stimme extrem pessimistisch und lasse die Zukunft nicht besonders rosig erscheinen.
Viel weniger Stellen für Schul- und Uni-Abgänger
Geoffry's Vermutung trifft leider zu. Die Gesundheitskrise hat sich auch in Grossbritannien längst in eine Wirtschaftskrise verwandelt. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass in diesem Jahr rund 80 Prozent weniger Stellen für Schulabgänger zur Verfügung stehen als im vergangenen Jahr.
Selbst für junge Leute wie Ben, die viel Zeit und Geld in eine universitäre Ausbildung investiert haben, haben sich die beruflichen Aussichten drastisch verschlechtert. Der 26-jährige Biochemiker hat im März seine erste Stelle als Forscher bei einer Pharmafirma ergattert, diese aber zwei Tage nach dem Lockdown bereits wieder verloren:
«Ehrlich gesagt, mache ich mir grosse Sorgen um meine Zukunft. Ich habe einen Uni-Abschluss aber weiss nicht was aus mir einmal wird. Keine Ahnung wie ich mitten in dieser Krise einen neuen Job finden soll, wenn ausser mir noch zwei Millionen Menschen eine Arbeit suchen und ich zwar einen Abschluss habe, aber als Forscher keine praktische Erfahrung aufweisen kann.»
Mangel an Perspektiven als tickende Zeitbombe
Eine Studie der Universität Manchester bezeichnet den Mangel an Perspektiven für eine ganze Generation junger Menschen als eine tickende Zeitbombe. Leute unter dreissig Jahren seien durch die Pandemie nicht nur überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen, sondern würden ebenso an Zukunftsängsten leiden.
Ein Mensch hinter dieser abstrakten Sozialstatistik ist Melissa. Die junge Verkäuferin arbeitete in Brixton in einem Lebensmittelgeschäft. Seit der Laden schliessen musste, sitzt sie zu Hause, schreibt Bewerbungen und ist depressiv. «Ich fühle mich einsam, vermisse meine Arbeitskollegen, finde keine Stelle mehr und – ehrlich gesagt – habe ich ein bisschen meine Orientierung verloren. Mir scheint, als wäre mir der Sinn des Lebens abhandengekommen.»
Mitten an einem verregneten Tag in einem Café im Süden von London zu sitzen, möge einfach erscheinen. Den Mut nicht zu verlieren, sei aber ebenso harte Arbeit, sagt die junge Frau, die lieber nicht fotografiert werden möchte.
Gefahr lebenslänglicher Arbeitslosigkeit
Die Pandemie hat die Zukunft einer ganzen Generation auf den Kopf gestellt. Zu denken geben den Ökonomen insbesondere auch die wirtschaftlichen Langzeitfolgen. Wer nach dem Schulabschluss oder Studium während zwei bis drei Jahren den Einstieg in die Berufswelt nicht schaffe, laufe Gefahr lebenslänglich von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein, schreiben die Wissenschaftler.
Ashly ist ebenfalls Ökonom. Er sieht die aktuelle Krise aber nicht ganz so dramatisch. Der 29-jährige Anlageberater im adretten Anzug trinkt vor einer Bank in Brixton seinen Pausen-Kaffee und referiert seine Theorie: «Wenn Sie einen Job wollen, dann bekommen Sie einen Job. Und wenn Sie lieber Arbeitslosengelder beziehen, dann bleiben Sie eben zu Hause.»
Die Welt stehe gerade Kopf. Unter solchen Umständen gebe es im Geschäftsleben nach seiner Erfahrung immer Sieger und Verlierer. «Entweder Sie schaffen die Kurve oder eben nicht.» Ashly besuchte eine Privatschule im Norden Londons, arbeitete lange für eine Schweizer Bank und man glaubt ihm sofort, dass er die Kurve ziemlich unbeschädigt schaffen wird.
Die Prognosen der Bank von England zeigen jedoch, dass er zu den Glücklichen gehört. Denn die Arbeitslosenrate in Grossbritannien steigt immer noch. Wenn es im Herbst zu einer zweiten Ansteckungswelle kommen sollte, könnte einer von sieben Briten den Job verlieren. Sorgen bereitet den Ökonomen zudem der Schuldenberg, der in diesen Monaten von der Regierung gezwungenermassen angehäuft wird. Er wird Geoffry, Ben, Melissa, Ashly und Tausende andere junge britische Steuerzahlerinnen und Steuerzahler noch viele Jahre begleiten.