Für Nadir Abbud war der Anblick seines Sohnes zu viel. Sieben Jahre lang hatte er gehofft, Yunis würde wieder auftauchen. Als er auf einem Foto die Leiche seines zu Tode gefolterten Sohnes erkannte, hörte das Herz von Nadir Abbud auf zu schlagen. Das Regime von Präsident Assad hatte nicht nur den Sohn getötet – durch den Tod von Yunis tötete das Regime auch seinen Vater.
Dass die Fotos von zu Tode gefolterten Gefangenen des syrischen Regimes erneut in sozialen Medien auftauchen, hängt mit den jüngsten Sanktionen der USA zusammen. Diese Sanktionen, die direkt auf den innersten Machtzirkel Syriens zielen, tragen den Namen «Caesar-Act».
Benannt nach dem Decknamen jenes ehemaligen syrischen Militärfotografen, der 2013, zwei Jahre nach Beginn des Konflikts, mehr als 50'000 Fotos von zu Tode gefolterten Gefangenen aus Syrien herausgeschmuggelt hatte.
Akribisch festgehaltene Gräueltaten
Viele der Fotos sind bereits 2015 ein erstes Mal veröffentlicht worden. Sie zeigen die systematische, brutale Folter, mittels derer die syrischen Machthaber ihre Gegner ermordet haben.
Der ehemalige syrische Militärfotograf sagte später gegenüber UNO-Ermittlungsbehörden aus, er habe teilweise bis zu 50 Leichen täglich fotografieren müssen. Das Regime hielt seine Gräueltaten offenbar akribisch fest, während die Angehörigen der zu Tode Gefolterten meistens über das Schicksal ihrer Söhne, Ehemänner und Brüder im Unklaren gelassen wurden.
Als die Amerikaner ihre neuen Sanktionen nach «Caesar» benannten und diesen «Caesar-Act» im Juni in Kraft setzten, nutzte dies eine Gruppe von syrischen Aktivisten, die Fotos erneut zu publizieren. Obwohl keines der Fotos neu ist, erfahren viele syrische Familien erst jetzt von ihnen.
Seit acht Jahren kein Lebenszeichen
So wie Jorah al-Mahmoud. Die alte Frau sitzt vor einem Zelt im Flüchtlingslager Ain Tahta in Idlib, jener Provinz im Nordwesten von Syrien, die Damaskus nach wie vor Widerstand leistet und heute mehrheitlich von islamistischen Gruppierungen und der Türkei kontrolliert wird.
Es gibt Flüchtlingslager und Flüchtlingslager; Ain Tahta jedoch ist selbst für den an solche Lager gewohnten Blick kaum zu ertragen: Die Zelte sind zerschlissen, der Boden selbst im Juli matschig, alles ist arm, leer, traurig.
Jorah al-Mahmoud erhebt sich langsam. Sie führt unseren Kameramann in ihr Zelt. Ein bisschen Privatsphäre, wenig nur. Drei Töchter hat Jorah al-Mahmoud und sechs Söhne. Von zweien ihrer Söhne hat sie seit acht Jahren kein Lebenszeichen mehr erhalten.
Sie wusste, dass sie vom Regime verhaftet worden waren. Aber sie hatte immer gehofft. Bis sie ihre Fotos sah: «Vor ein paar Tagen, wir hatten eben erst von den Fotos der Toten gehört, kamen einige Nachbarn und zeigten mir ein Bild: Schau, das ist dein Sohn, sagten sie. Ich fiel aus allen Wolken! Ich hatte immer gehofft, die Türe würde eines Tages aufgehen und er würde reinkommen.»
Traurige Gewissheit
Heute weiss sie, dass ihr Sohn Jumaa nie mehr zur Türe hereinkommen wird. «Keiner hatte mir etwas gesagt. Niemand hat mir ein Foto gezeigt, als er gestorben ist. Dabei habe ich meinen Sohn schon vor acht Jahren verloren!»
Drei, vier Mal sei sie nach Damaskus gefahren, um nach Jumaa zu suchen. Immer erfolglos. «Gott allein weiss, was ich durchgemacht habe. Tag und Nacht sass ich an der Türe und habe gehofft, meine Söhne wiederzusehen. Bis sie mir dieses Bild gezeigt haben.»
Tag und Nacht sass ich an der Türe und habe gehofft, meine Söhne wiederzusehen. Bis sie mir dieses Bild gezeigt haben.
Tränen rollen über die Wangen von Jorah al-Mahmoud. Fast zärtlich hält sie das Smartphone mit dem Foto ihres zu Tode gefolterten Sohnes in der Hand. Ihr Sohn Jumaa hatte drei Töchter. Sie leben bei der Familie ihrer Mutter in Idlib. «Dort haben sie ein Haus. Das ist besser als das Flüchtlingslager hier.» Ab und zu kommen sie zu Besuch. «Erst gestern waren sie hier. Aber dann sind sie wieder gegangen.» Jorah al-Mahmoud ist sehr einsam.
Nur ein kleines Gebet
Jorah al-Mahmoud ist nicht die einzige im Flüchtlingslager von Ain Tahta, die auf den jüngsten Bildern ihre Söhne wiedererkannt hat. Abdel Salam al-Nasser ist so etwas wie der Leiter des Camps. «Nachdem wir die ‹Caesar›-Fotos neu entdeckten, begannen wir nach unseren Kindern zu suchen, die sie verhaftet hatten. Wir waren schockiert, als wir herausfanden, dass allein aus unserem Dorf mehr als 15 Menschen unter Folter gestorben sind. Und jeder konnte die Bilder sehen!»
Wir konnten nicht viel tun. Nur ein kleines Gebet für die Seelen dieser Märtyrer und einen kleinen Protest, sodass die Welt uns hören möge.
Al Tahat heisst das Dorf, aus dem die meisten der 1700 Einwohner des Flüchtlingslagers stammen. Jeder kennt jeden. «Wir konnten nicht viel tun. Nur ein kleines Gebet für die Seelen dieser Märtyrer und einen kleinen Protest, sodass die Welt uns hören möge.»
Wirtschaftskrise lässt Syrer hungern
Der Krieg in Syrien ist noch lange nicht vorbei. Und die grassierende Wirtschaftskrise verstärkt ihn noch. Ein öffentlich ausgetragener Streit zwischen Machthaber Baschar al-Assad und seinem Cousin Rami Makhlouf, dem reichsten Mann Syriens und langjährigen Gefährten des Präsidenten, offenbarte jüngst Risse innerhalb des innersten Zirkels des Regimes. Das Regime, das Assad seit genau 20 Jahren anführt, hat nach neun Jahren Krieg und nach zehrenden Sanktionen immer weniger zu verteilen.
Doch wie immer leiden unter den verstärkten Sanktionen vor allem die einfachen Leute. Auch in Idlib macht sich der Hunger breit – wie in ganz Syrien: «Jetzt können wir uns das Brot schon nicht mehr leisten. Unsere Kinder müssen am Abend ins Bett gehen, ohne zuvor noch ein Brot gegessen zu haben.» Yasser al-Halabi steht vor einer Bäckerei und schimpft. «Noch vor einem Monat kostete ein Sack Brot 250 syrische Pfund. Heute kostet das Pack 1000 Pfund – viermal mehr!»
Jorah al-Mahmoud kümmert das kaum noch. Die Fotos ihres zu Tode gefolterten Sohnes haben sie gebrochen. «Was immer Gott bestimmt, müssen wir hinnehmen. Aber die Leute, die das gemacht haben, sind schlechte Leute. Gott möge sie alle bestrafen!»