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Fünf Jahre nach Abschluss Flüchtlingspakt: Erdogans Pfand und Europas Dilemma

Hilfsorganisationen kritisieren das Abkommen scharf, die Türkei will mehr Geld: Der Flüchtlingspakt bleibt umstritten.

Fünf Jahre Flüchtlingspakt: Vor genau fünf Jahren unterzeichnete die EU mit der Türkei den sogenannten Flüchtlingspakt. Im Grundsatz erklärte sich die Türkei bereit, die Grenzen für Flüchtlinge zu schliessen – im Gegenzug sprach die EU sechs Milliarden Euro Hilfe. In der Tat ging die Zahl der Menschen, die nach Europa kommen, seither stark zurück. In der Türkei leben rund vier Millionen Flüchtlinge, die meisten sind seit 2011 aus Syrien geflüchtet.

Syrische Flüchtlinge 2015 an der griechischen Küste
Legende: Das Abkommen sieht vor, dass die EU Flüchtlinge und Migranten, die illegal über die Türkei auf die griechischen Inseln kommen, zurückschicken kann. Keystone/Archiv

Kritik von Hilfsorganisationen: Acht Hilfsorganisationen fordern nun in einem offenen Brief einen grundlegenden Kurswechsel der europäischen Flüchtlingspolitik. Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei sei gescheitert, kritisiert die Organisation Oxfam. Die Folgen des Pakts seien katastrophale Lebensbedingungen in den Aufnahmelagern, illegale Zurückweisungen an den EU-Aussengrenzen und schleppende Asylverfahren. Für die «dramatische humanitäre Krise» sei die EU verantwortlich.

Migrantenfamilie im temporären Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos, Herbst 2020.
Legende: Amnesty International, Caritas und Human Rights Watch kritisieren die geplanten Aufnahmezentren auf den griechischen Inseln, die «haftähnliche Bedingungen» vorsähen. Keystone/Archiv

Pakt in beidseitigem Interesse: Die EU schloss das Abkommen mit der Türkei im Gefolge der Flüchtlingskrise von 2015/2016 und dem anhaltenden «Migrationsdruck» über die Balkanroute ab. Allein in Deutschland wurden in dieser Zeit über eine Million Asylanträge gestellt. Der Flüchtlingspakt und Grenzbarrieren in den Balkanstaaten trugen massgeblich dazu bei, dass seither deutlich weniger Menschen nach Europa kamen. Auch für die Türkei habe sich das Abkommen grundsätzlich gelohnt, sagt ARD-Korrespondentin Karin Senz: «Sie kritisiert aber, dass bislang erst vier der vereinbarten sechs Milliarden Euro geflossen seien.»

Zustände wie auf Lesbos gibt es in der Türkei nicht.
Autor: Karin Senz ARD-Korrespondentin in der Türkei

Erdogan drängt auf Neuverhandlung: Zum Unmut Ankaras trägt bei, dass es bis heute keine Visa-Freiheit für Türkinnen und Türken gibt, die in die EU einreisen wollen. Auch das war Teil der Vereinbarung, ebenso wie die Ausweitung der Zollunion. Der türkische Staatschef Erdogan will deshalb eine Neuverhandlung des Abkommens – und mehr Geld für die Unterbringung und Integration der Flüchtlinge. Eine Forderung, die laut Korrespondentin Senz durchaus berechtigt ist: «Die EU hat heruntergebrochen auf die fünf Jahre pro Tag nicht einmal einen Euro pro Flüchtling ausgegeben.»

Syrische Flüchtlinge klettern 2015 über den Grenzzaun die Türkei
Legende: Auch in der Türkei tätige Flüchtlingsorganisationen fordern die EU auf, sich stärker an den Kosten zu beteiligen. Im Bild: Syrische Flüchtlinge klettern 2015 über den Grenzzaun in die Türkei. Keystone/Archiv

Erdogans Pfand: Letztes Jahr öffnete die Türkei wegen der fehlenden Unterstützung der Nato für ihre Militäroffensive in Nordsyrien die Grenzen für Flüchtlinge nach Europa. Könnte sich die Geschichte wiederholen? Ausgeschlossen ist das nicht. «Erdogan ist ein Pragmatiker. Er macht das, was ihm nützt», sagt Senz. Viele der Geflüchteten hätten aber gar nicht mehr die Absicht, nach Europa zu kommen. Und: «Mit der Grenzöffnung hat Erdogan Europa den Spiegel vorgehalten: Als Griechenland komplett dichtgemacht hat, hat man Europas unmenschliches Gesicht gesehen.»

Wasserwerfer schiessen auf Flüchtlinge und Migranten an der türkisch-syrischen Grenze.
Legende: Flüchtlinge und Migranten, die mit Wasserwerfern und Tränengas ferngehalten werden: Die türkische Grenzöffnung 2020 stellte Europa ein wenig schmeichelhaftes Zeugnis aus. Reuters/Archiv

Schutzstatus in der Türkei: In der Türkei leben heute rund 3.7 Millionen Flüchtlinge aus Syrien. Nur knapp zwei Prozent sind noch in Lagern untergebracht. «Zustände wie auf Lesbos gibt es in der Türkei nicht», berichtet Senz. Viele Menschen leben aber unter prekären Umständen. Corona und die anhaltende türkische Wirtschaftskrise verschärfen die Situation auf dem informellen Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Immerhin: Syrerinnen und Syrer geniessen in der Türkei einen Schutzstatus und haben Anrecht auf finanzielle Unterstützung und Krankenversorgung, die Kinder können in die Schule. Damit sind sie besser gestellt als etwa Flüchtlinge aus dem Iran oder Afghanistan.

SRF 4 News, 18.03.2021, 6:20 Uhr ; 

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