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Gespaltenes Israel? «Auf wessen Seite bin ich? Ich bin nirgendwo»

Israel wählt schon bald wieder ein neues Parlament. Der Wahlkampf im April war gehässig. Rechte gegen Linke, Säkulare gegen Religiöse, Städter gegen Siedler. Daran wird sich im Wahlkampf für die vorgezogenen Neuwahlen im September nichts ändern.

Doch so gespalten, wie es von aussen wirkt, ist die israelische Gesellschaft nicht in allem. Die kollektive Erfahrung der Verfolgung, die Verteidigung gegen Feinde und der zunehmende Antisemitismus ausserhalb Israels einen die meisten Israelis mehr, als man denken könnte. Vier Porträts.

Walter Bingham, Holocaust-Überlebender

Am Holocaust Gedenktag redet Walter Bingham in einer kleinen Synagoge in Jerusalem. «Wir leben heute in einer Zeit, die mit den 1930er-Jahren vergleichbar ist – nur schlimmer», beginnt der Holocaust-Überlebende (95) seinen Vortrag. Denn jetzt würden Juden auch in Ländern angegriffen, wo sie sich sicher wähnten. Gäbe es Israel nicht, wäre es für sie noch viel bedrohlicher.

Dann beginnt Walter Bingham zu erzählen: 1924 in Karlsruhe als Kind polnischer Einwanderer geboren, Muttersprache Deutsch und Jiddisch, von der Grossmutter.

Als Hitler 1933 an die Macht kam, wurde Bingham zum geächteten polnischen Schuljungen. Seinen Vater deportierten die Nazis ins Warschauer Ghetto. Seine Mutter kam ebenfalls in ein Ghetto. Sie überlebte. Bingham selbst gelangte 1939 mit den Kindertransporten nach England. Grossbritannien nahm rund 10'000 jüdische Kinder auf, und rettete sie vor Konzentrationslagern und Krieg. Die meisten sahen ihre Eltern nie wieder.

Der 95-jährige Radio-Talkshow-Moderator hat viel erlebt. Eine elternlose Jugend in einem zionistischen Kibbuz-Zentrum in England. Die Invasion der Normandie, in der er 1944 als britischer Soldat kämpfte. Später untersuchte er in Hamburg Nazi-Dokumente für den britischen Militärgeheimdienst. Er zieht eine Tapferkeitsmedaille aus einem Koffer, der neben einem Stuhl steht mit der Aufschrift «Reserviert für Benjamin Netanjahu». Erst mit 80 wanderte Bingham nach Israel aus. Endlich fühlt er sich daheim.

«Weil mir hier keiner mehr ‹schmutziger Jude› nachrufen kann. Hier tut mir keiner mehr was.»

Aliza Herbst, Siedlerin in der Westbank

«Wenn du in deinem Herzen wohnen würdest, wärst du jetzt zuhause», steht auf der Eingangstüre. Im Garten erklingen Glockenspiele im Wind. Das Haus der Yoga-Lehrerin Aliza Herbst (66).

Am Eingang zur Siedlung Ofra stehen schwerbewaffnete Soldaten vor einem dicken Eisentor. Für die internationale Gemeinschaft sind die Siedlungen im Westjordanland gemäss Völkerrecht illegal. Israel bestreitet das. Immer wieder kommt es zu tödlichen Zusammenstössen zwischen den Siedlern und den Palästinensern in den umliegenden Dörfern.

Vor 38 Jahren zog die gelernte Sozialarbeiterin aus Kalifornien mit ihrem Mann nach Ofra. Wie Pioniere wollten sie eine neue Gemeinschaft mitprägen. Allerdings hatten sie selbst als Juden anfänglich Vorurteile gegenüber jüdischen Siedlungen.

«Wir dachten, Siedler seien Männer mit langen Bärten und Maschinenpistolen, die um Lagerfeuer tanzten», lacht Aliza Herbst. Ein Tagesausflug zu den Siedlern korrigierte dieses Bild. Sie und ihr Mann wurden selbst Siedler, obwohl Bauen damals in den besetzten Gebieten noch verboten war. Das kümmerte Herbst nicht. «Wir waren Kinder der 60er-Jahre, wir waren bei Woodstock dabei, Rebellen halt. Wir machten, was wir wollten», sagt sie.

Den Tarif durchgeben: Das hätte auch Israel längst tun sollen, findet sie. Und hat bei den letzten Wahlen deshalb für die rechts-aussen Partei des Politikers Naftali Bennett gestimmt. Dieser fordert im Westjordanland eine Annexion der von Israel kontrollierten Gebiete.

«Israel hätte von Anfang an klar sagen müssen: Das sind unsere Landesgrenzen, wir sind ein jüdischer Staat. Wem das nicht passt, kann gehen», sagt die Siedlerin. Dann gäbe es längst einen Friedensplan und es ginge allen besser.

Dan Kohn, Kibbuz Adamit

Dan Kohn war 19, als ihm ein Freund sagte, er wolle in einem Kibbuz in Israel Hebräisch lernen. Damals arbeitete der Sohn amerikanischer Juden in Los Angeles bei McDonald's und hatte kaum Geld. Aber er wollte unbedingt mit. Dass ihn der Aufenthalt im Kibbuz nichts gekostet habe, sei sein zionistisches Schlüsselerlebnis gewesen. 1971 kam er also nach Israel – und blieb.

Der Kibbuz Adamit war damals am Ende. Er half mit, ihn wiederaufzubauen. Im Glauben, er baue damit auch den Staat Israel auf und bringe die Wüste zum Erblühen. Die Ideale von damals – alle gleich, alles teilen, der Traum von einer besseren Welt – sind inzwischen teilweise verblüht. Die landesweite Kibbuz-Krise der 1980er-Jahre hat viel verändert. Auch die Bedürfnisse wurden individueller. Der Kibbuz Adamit verkaufte Bauland für Einfamilienhäuser. Auch Kohn hat das Kibbuz-Leben gegen die Privatsphäre des Eigenheims getauscht. Nach mehr als 40 Jahren.

Seine Kibbuz-Ideale hat Dan Kohn trotzdem weitgehend behalten. Er zeigt stolz auf ein Nachbarhaus, in dem Bedouinen wohnen. Probleme hat Kohn nicht mit Bedouinen oder Palästinensern, sondern mit den Ultra-Religiösen.

«Viele von ihnen sind intolerant. Sie wollen uns ihr Weltbild aufzwingen. Ich erkenne manchmal mein Land nicht wieder!» Und während er für Israel im Yom-Kippur-Krieg und sein Sohn im Libanonkrieg kämpften, müssten fromme Juden keinen Militärdienst leisten. Das findet er unfair.

Adi Mansour, Student in Tel Aviv

Fremd im eigenen Land, so fühlt sich Adi Mansour. Der 23-jährige Student ist christlicher Palästinenser und israelischer Staatsbürger. «Du bist zwar ein Einheimischer, aber man sagt dir ständig: Hau ab, es wäre hier besser ohne dich», sagt er.

Aufgewachsen ist Mansour in Haifa, der drittgrössten Stadt Israels. Sie gilt als jüdisch-arabischer Schmelztiegel, doch jüdische Freunde hat er erst, seitdem er an der Universität in Tel Aviv studiert.

«Freundschaften zu schliessen ist menschlich, aber sie verändern nichts», sagt Mansour. Viele meinten, wenn sich Juden und Palästinenser befreunden, dann sei alles gut. Aber die Ungleichheit bleibe bestehen.

Mansour sitzt an einem Tisch.
Legende: Adi Mansour (23), Student an der Universität Tel Aviv, ein Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft. Er fühlt sich fremd im eigenen Land. SRF

Zwar gebe Israel den palästinensischen Staatsbürgern individuelle Rechte. Nicht aber das Recht, den Staat mitzugestalten. Nicht einmal das Recht auf die eigene Geschichte. In der Schule habe er einen Vortrag halten wollen über den Gaza-Krieg damals. Der Rektor habe es ihm verboten. Auch die israelische Linke tut sich schwer mit den Palästinensern: Als die Oppositionsparteien kürzlich gegen Premierminister Netanjahu demonstrierten, luden sie die arabischen Parteien nicht dazu ein. Solche Erfahrungen haben Adi Mansour geprägt. Manchmal weiss er nicht einmal in Notsituationen, wo er hingehört.

«Heute an der Uni hatten alle Angst vor den Raketen aus Gaza und informierten sich, wo der Luftschutzkeller ist», erzählt er. Er habe sich seltsamerweise weder angesprochen noch bedroht gefühlt. Mit der Hamas und dem islamischen Dschihad habe er nichts am Hut. Mit der israelischen Regierung aber auch nicht. «Auf wessen Seite bin ich? Ich bin nirgendwo», sagt der 23-Jährige.

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