Die Corona-Ansteckungen steigen nirgends so schnell wie in Indien. In nur elf Tagen hat das Land über eine Million neue Infektionen gemeldet. Mittlerweile gibt es sechs Millionen bestätigte Corona-Fälle. Forscher gehen aber von noch viel mehr aus.
Von potenziell über 100 Millionen Fällen ist die Rede. «Das ist keine Projektion in die Zukunft, wo Indiens Corona-Zahlen einmal landen könnten, sondern eine Berechnung aktueller Infektionen», sagt Bhramar Mukherjee, Virologin und Professorin für Bio-Statistik an der Universität von Michigan.
Enorm hohe Dunkelziffer
In Indien hätten sich zwanzig Mal mehr Leute mit dem Coronavirus infiziert als gemeldet wurden, sagt Mukherjee. Ihre Berechnungen erfolgen aus der Differenz zwischen der Anzahl an positiv getesteten Personen und den Antikörper-Tests in gewissen Gliedstaaten in Indien, so zum Beispiel in Neu-Delhi oder Mumbai.
Dort hatten zwanzig Mal mehr Menschen Antikörper entwickelt als positiv auf das Coronavirus getestet wurden. Auf die gesamte Bevölkerung hochgerechnet kommt Mukherjee auf 100 Millionen Fälle in Indien. Eine Zahl, die aber nie verifiziert werden könne, sagt die Virologin. Dennoch würden ihre Rechenmodelle aussagen, wie gross die Dunkelziffer in Indien ist.
Wie verlässlich sind die Berechnungen?
Shahid Jameel, Virologe des Welcome Trusts, welcher dem indischen Departement für Biotechnologie unterstellt ist, hält wenig von solchen Rechenmodellen. «Es muss zwischen bestätigten und vermuteten Infektionen unterschieden werden», sagt Jameel. Bestätigte Corona-Infektionen seien lediglich jene, die positiv getestet wurden. Alle anderen Zahlen seien wenig glaubwürdig, da sie auf Extrapolationen berufen.
Doch mit den Tests ist es so eine Sache. Nicht alle sind gleich verlässlich. Indien setzt mehr und mehr auf eine einfachere und schnellere Testmethode, welche aber eine grosse Fehlerquote aufweist, warnt Jameel: Von 100 effektiv positiven Fällen würde der Schnelltest nur 50 bis 80 erkennen. «Zu wenig», sagt Jameel.
Indien testet mittlerweile eine Million Menschen pro Tag. Gemessen an der Bevölkerung Indiens von 1.3 Milliarden Menschen sei das immer noch relativ wenig, sagt Mukherjee von der Michigan Universität: In Indien seien bisher 62 Millionen Menschen getestet worden – weniger als 5 Prozent der Bevölkerung. In den USA hingegen wurden 30 Prozent der Bevölkerung getestet. Deswegen sei die Dunkelziffer in Indien um einiges höher als in den USA.
Herdenimmunität kein Thema
Doch was bedeutet es, wenn in Indien tatsächlich bereits 100 Millionen Menschen an Covid-19 erkrankt wären? Wäre Herdenimmunität der einzige Ausweg für Indien? Mukherjee winkt ab. Indien sei noch immer weit von einer Herdenimmunität entfernt: «100 Millionen Menschen wären immer noch weniger als 10 Prozent der Bevölkerung.»
Für eine Herdenimmunität bräuchte es drei bis vier Mal so viele Infektionen. Das hätte aber einen hohen Preis, denn bei einer so hohen Infektionsrate müsse man mit mindestens 670'000 Toten rechnen. Das wären etwa zehn Mal mehr als jetzt. Ein zu hoher Preis, sagt Jameel. Sein Rat: Nicht erst auf die Herdenimmunität warten, sondern eine Maske tragen – und zwar richtig.
Doch das machen nun, während der schrittweisen Aufhebung eines der strengsten Lockdowns der Welt, immer weniger. In Indien macht sich eine gewisse Fatigue gegenüber der Maskenpflicht und der weiteren Richtlinien bemerkbar. Zu früh.