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IKRK-Hilfe in Afghanistan «Wir kennen die Talibanführer von früher, das ist ein Vorteil»

Die Unsicherheit in Afghanistan ist gross, weshalb sich das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) mehr denn je engagieren will. Es setzt auf Dialog mit der neuen Talibanregierung. IKRK-Präsident Peter Maurer, der kürzlich für drei Tage in Afghanistan war, schildert seine Erfahrungen und Hoffnungen.

Peter Maurer

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Peter Maurer ist seit 2012 Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Unter seiner Leitung führt das IKRK humanitäre Einsätze in über 80 Ländern durch.

SRF: Peter Maurer, mit welchen Eindrücken sind Sie aus Afghanistan zurückgekommen?

Peter Maurer: Auf der einen Seite sieht man alle Zeugen eines langen Krieges. Man sieht verlassene Militärcamps, frische Gräber, die Zerstörung. Afghanistan ist auch ein sehr armes Land, so kommt die Misere der Armut mit den Auswirkungen des Krieges zusammen.

Auf der anderen Seite war ich erstaunt, wie normal das Leben weitergeht. Sowohl in Kabul aber noch viel mehr in den Provinzstädten, die ich besucht habe. Die Läden sind offen, die Leute gehen auf den Markt, es ist alles ausserordentlich belebt.

Die Taliban verstehen, was neutrale, unabhängige humanitäre Arbeit ist – auch wenn sie es vielleicht nicht immer mögen.
Autor: Peter Maurer IKRK-Präsident

Wenn man kein geübtes Auge hat, meint man vielleicht, es bestünden gar keine grossen Probleme. Dann sieht man kleinere Demonstrationen, lange Schlangen vor geschlossenen Banken – und dass wir es hier eben nicht mit einer Normalsituation zu tun haben.

Wir sind weit von einer Normalität entfernt. Es gibt keinen einzigen lokalen IKRK-Mitarbeiter in Afghanistan, der in diesem Krieg nicht jemanden verloren hat, jemanden vermisst oder in dessen Umfeld eine Person nicht verwundet beziehungsweise physisch oder psychisch stark beschädigt wurde.  

Wo sehen Sie im Moment für das IKRK den grössten Handlungsbedarf?

Wir werden versuchen, unsere Programme weiterzuführen, insbesondere im Gesundheitsbereich. Wir sind ein wichtiger Unterstützer des afghanischen Gesundheitswesen und in über 80 Spitälern tätig. Wir sind aber auch im Wasser- und Sanitärbereich tätig und natürlich im Kernbereich unseres Mandates: Der Schutz der Menschen gemäss humanitärem Völkerrecht.

Wir sind nun aber in einer neuen Situation, wir haben neue Behörden auf nationaler, aber auch regionaler Ebene. Wir müssen den Gesprächsfaden finden für eine Gruppe, mit der wir zwar bislang in Kontakt waren, die aber jetzt das Land regiert. Wir müssen mit ihnen aushandeln, unter welchen Bedingungen wir künftig im Land tätig sein können. 

Ich bin relativ hoffnungsvoll, wie die Gespräche begonnen haben. Aber wie immer bei solchen Verhandlungen, müssen wir beobachten, wie sehr auch unsere Rahmenbedingungen von der Taliban-Regierung respektiert werden.

Vielleicht ist der grösste Vorteil des IKRK in diesen Situationen, dass wir die Talibanführer aus ihrer Zeit im Gefängnis kennen.
Autor: Peter Maurer IKRK-Präsident

Worauf stellen Sie sich bei der Zusammenarbeit mit den Taliban ein?

Wenn ich die Gesprächspartner beim Wort nehme, kann man vielleicht von einiger Kontinuität sprechen. Wir kennen die Ansätze der Taliban und sie kennen die unseren. Sie verstehen, was neutrale, unabhängige humanitäre Arbeit ist – auch wenn sie es vielleicht nicht immer mögen.

Ich traue uns zu, dass wir mindestens einen humanitären Raum mit den Taliban aushandeln können, der es erlaubt, die Bevölkerung in kritischen Bereichen besser zu versorgen. Ich schliesse aber nicht aus, dass wir Schwierigkeiten haben werden. Es gibt verschiedene Strömungen innerhalb der Taliban, es gibt ausserhalb der Taliban noch radikalere Gruppierungen.

Sie haben Mullah Baradar, ein Mitglied der neuen Führung, getroffen. Wie war das Treffen?

Es war nicht unser erstes Treffen. Es ist ein ausserordentlich positiver Dialog mit ihm. Ich glaube, er ist sich bewusst, welches die roten Linien und die schwierigen Themen sind für ein internationales Engagement. Der Gesprächsfaden mit ihm ist eher ein leichter, weil man eine gewisse gemeinsame Basis und auch eine gemeinsame Vergangenheit des Dialogs hat.

Vielleicht ist der grösste Vorteil des IKRK in diesen Situationen, dass wir diese Leute alle aus ihrer Zeit im Gefängnis kennen. Wir haben praktisch die ganze Taliban-Führerschaft, die Jahre im Gefängnis verbracht hat, durch unser Mandat besucht, in Gefängnissen in Guantanamo oder Bagram. Ich denke, das hat dieser Führungsgruppe der Taliban, die heute den Ton angibt, auch gezeigt, dass das IKRK ein glaubwürdiger Akteur vor Ort ist, dass man mit uns reden kann. Aber ich will die Probleme, die uns noch bevorstehen, nicht kleinreden.

Ein zentraler Teil der Arbeit des IKRK sind die Besuche in den Gefängnissen. Haben Sie da Zugeständnisse?

Grundsätzlich war es im Gespräch mit den Taliban klar, dass das IKRK die Arbeit in den Gefängnissen fortsetzen soll und kann. Die Frage ist, wie genau und in welchem Ausmass. Eine ebenso wichtige Frage ist, wie wir im weiteren Bereich des Justiz- und Strafvollzugsystems auch eine neue Regierung in Afghanistan beraten können. Ich glaube, wenn wir in einem Punkt gegenüber dieser neuen Führungsschicht in Kabul einen Vorteil haben, dann ist es, dass sie uns als glaubwürdigen Experten im Bereich des Gefängniswesens ansehen.

Das Gespräch führte Cornelia Boesch.

Tagesschau, 09.09.2021, 19.30 Uhr;

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