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In den Fängen der Justiz Wegen einer 1-Dollar-Note in türkischer Isolationshaft

Nasa-Physiker Serkan Gölge wurde bei einem Heimatbesuch verhaftet. Nun ist er wieder frei und erzählt, wie er zum politischen Spielball wurde.

Serkan Gölges Welt war das Ausserirdische. Bis im Sommer 2016 jedenfalls. Bis der Physiker, der für die Nasa in Houston an der Mars-Mission arbeitete, seine Eltern in der Türkei besuchte. Bis er nach der Putschnacht vom 15. Juli verdächtigt wurde, der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen anzugehören. Staatschef Recep Tayyip Erdogan beschuldigt seinen einstigen Weggefährten Gülen, den Aufstand gegen ihn damals orchestriert zu haben.

Von Verwandtem angekreidet

Nach der blutigen Julinacht war die Stimmung aufgeheizt. Regierungsnahe Medien behaupteten, auch der Geheimdienst CIA habe seine Finger im Spiel und riefen dazu auf, Verdächtige anzuzeigen. Ein amerikanischer Pass und die Nasa als Arbeitgeber war für einen Verwandten von Gölge Grund genug, ihn anzuzeigen. Die Staatsanwaltschaft klagte Gölge wegen Terrorismus an.

Als Indiz präsentierte sie eine 1-Dollar-Note, die in Gölges Elternhaus gefunden worden sei. Angeblich hat Gülen, der seit den 1990er-Jahren im US-Exil lebt, besonders loyale Anhänger symbolisch mit 1-Dollar-Noten beschenkt. Als Gölge nach einem Monat Ferien im südosttürkischen Hatay wieder in seine Wahlheimat zurückkehren wollte, wurde er festgenommen. Just, als er mit gepackten Koffern zum Flughafen fahren wollte.

Serkan Gölge
Legende: Gölge, der Weltraumforscher mit türkischen Wurzeln, glaubte zunächst an ein Versehen: «Sogar nach 14 Tagen in Haft war ich mir sicher, dass das ein Missverständnis ist. Aber nein, ich lag falsch.» zvg

Es folgten stundenlange Verhöre mitten in der Nacht, drei Jahre Isolationshaft, danach Hausarrest, Drohungen. «Ein Geheimdienstoffizier sagte: Entweder arbeiten Sie für uns oder Sie werden sehr lange in Haft bleiben. Ich lehnte ab», erzählt Gölge am Telefon in Houston. «Ich bin ein Wissenschafter, kein Spion.» Mit Gülens Bewegung habe er nie etwas zu tun gehabt, sagt Gölge.

Ein Ende des Albtraums zeichnete sich erst im November 2019 ab. Bei einem Besuch Erdogans im Weissen Haus sagte US-Präsident Donald Trump vor den Medien, Serkan Gölge werde in «in nicht zu ferner Zukunft in die USA zurückkehren».

Erdogan und Trump
Legende: Erdogan am 13. November 2019 zu Besuch bei Trump. Gölge wurde im Juni 2020 freigelassen. Keystone

Nicht nur Gölge glaubt, dass er eingesperrt wurde, weil man ihn als Faustpfand brauchte, um Druck auf die USA zu machen. Auch unabhängige Beobachter sind sicher, dass Erdogan die USA so zur Auslieferung Gülens zwingen wollte. Die Türkei bestritt dies und sagte, Gölge sei kein politischer Häftling, die Justiz entscheide unabhängig. Doch dies glaubt kaum jemand.

Als Druckmittel missbraucht?

Gölge beobachtete im Gerichtssaal, wie sich die Richter wanden. «Sie waren so verängstigt, ich weiss nicht von wem. Es war ihnen nicht möglich, mich freizulassen», erinnert sich der 40-Jährige. Die Justiz verurteilte ihn zuerst zu 7.5 Jahren Gefängnis, später wurde die Strafe auf fünf Jahre reduziert.

Gölge am Laptop
Legende: Gölge war drei Jahre in Isolationshaft, 23 Stunden am Tag in einer 2x4 Meter grossen Zelle eingesperrt. Tageslicht hatte Gölge nur durch ein winziges Fenster, das über Kopfhöhe war. Für eine Stunde durfte er in den Gefängnishof. Aber auch dort: hohe Mauern, der Himmel nur ein kleines Viereck. zvg

Wieso Serkan Gölge dann doch plötzlich frei gekommen ist, weiss er bis heute nicht. Völlig unerwartet holten ihn Aufseher aus der Zelle; ohne vorher die Familie zu informieren. Ohne Geld und Telefon musste der Nasa-Physiker drei Kilometer ins nächste Dorf marschieren. Im Juni konnte Gölge schliesslich die Türkei verlassen und in seine Wahlheimat USA zurückkehren. Seit wenigen Tagen arbeitet er wieder für das Johnson Space Center in Houston.

Ich habe vier Jahre verloren. Und wofür? Für nichts.
Autor: Serkan Gölge Ex-Häftling

Statt mit dem Mars beschäftigt er sich jetzt mit dem nächsten Flug zum Mond. Ihn fasziniert die Zukunft, und dennoch quälen ihn die vier letzten Jahre. «Ich bin traurig und enttäuscht, dass ich vier Jahre verloren habe. Ohne Grund. Ich war 36 und bin jetzt 40. Mein Sohn war zwei Monate alt und ist jetzt vier. Ich habe vier Jahre seines Lebens verloren. Und wofür? Für nichts.»

Echo der Zeit, 27.07.2020, 18 Uhr

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