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Israel/Palästina – Die grüne Linie und die Zweistaatenlösung
Aus International vom 06.04.2024. Bild: SRF
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Israel/Palästina Eine Zweistaatenlösung: geografisch und psychisch keine Chance

Zehntausende von Toten in nur sechs Monaten, in Israel, Gaza und dem Westjordanland: Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Die Weltgemeinschaft fordert eine Rückbesinnung auf die Zweistaatenlösung. Ausgerechnet jetzt?

Am Ende des Palästinakrieges, 1949, sassen die Kriegsparteien zusammen und zeichneten – in grüner Tinte – eine Waffenstillstandslinie ein: zwischen Israel, dem Westjordanland und dem Gazastreifen.

Eine Reise entlang der «grünen Linie» heute zeigt jedoch: Eine solche Lösung wirkt utopisch. Geografisch und psychisch.

Karte von Israel
Legende: Die «grüne Linie» sollte einmal die Grenze zwischen dem jüdischen Staat Israel und einem palästinensischen Staat bilden. Bis zum Scheitern des Oslo-Friedensprozesses im Jahr 2000 schien die Zweistaatenlösung für den Nahostkonflikt nicht gänzlich undenkbar. SRF

Westjordanland: Mauern, Stacheldraht und Checkpoints

Wer die grüne Linie sucht, fährt am besten zu George Rishmawi. Das ist allerdings einfacher gesagt als getan. Der palästinensische Wanderführer wohnt nämlich in Beit Sahur bei Bethlehem. Also auf der Seite der grünen Linie, die als Teil eines Palästinenserstaates vorgesehen wäre. Seit dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober ist da fast kein Durchkommen mehr. Israel hat das Palästinensergebiet förmlich mit Checkpoints durchsetzt.

Checkpoint in Bethlehem
Legende: «Wir müssen jetzt vor Checkpoints innerhalb des Westjordanlandes stundenlang warten», sagt der Gründer und Direktor der Organisation Masar Ibrahim Al Khalil, die Wandertouren auf dem Abraham-Pfad durchs besetzte Westjordanland organisiert. SRF

Rishmawi nimmt den Atlas des UNO-Amtes für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, OCHA, hervor. «Das ist Jerusalem, daneben Bethlehem, und wir sind hier, in Beit Sahur. Jetzt schau dir Bethlehems Umgebung mal an! Die Stadt ist von israelischen Siedlungen umgeben und auf drei Seiten eingemauert!»

Eine israelische Siedlung im Westjordanland.
Legende: Eine israelische Siedlung im Westjordanland. SRF

Auf der vierten Seite ist eine Strasse, auf der nur Israeli fahren dürfen, obwohl sie auf palästinensischem Boden, also innerhalb der grünen Linie liegt.

Das Ende des Oslo-Friedensprozesses und die grüne Linie

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In den 1990er Jahren, während des Oslo-Friedensprozesses, schien die grüne Linie als Grenze zwischen Israel und einem Palästinenserstaat noch möglich. Dann scheiterten die Verhandlungen und mündeten in einen blutigen Palästinenseraufstand. Es gab Terroranschläge – Israel baute ums Westjordanland eine Sicherheitsbarriere: davon 85 Prozent hinter der grünen Linie, also auf palästinensischem Land. Gleichzeitig trieb Israel den Siedlungsbau massiv voran.

Heute leben mehr als 600'000 jüdische Siedlerinnen und Siedler hinter der grünen Linie. Für die UNO-Generalversammlung und den Internationalen Gerichtshof sind israelische Siedlungen hinter der grünen Linie illegal. Israel bestreitet das: Das Gebiet sei nicht besetzt, sondern umstritten.

Seit dem 7. Oktober verändern seine Armee und militante Siedler die Landkarte des Westjordanlandes immer stärker. Ende März kündigte Israels Siedlerpolitiker und Finanzminister, Bezalel Smotrich, die Annektierung von weiteren zehn Quadrakilometern Land an. Für die drei Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser wird es immer enger.

Was der palästinensische Christ auf der Karte zeigt, kann man sich erst draussen im Feld richtig vorstellen: Dass es kein palästinensisches Dorf mehr gibt, von dem man ohne Sperre oder Checkpoint auf direktem Weg in ein anderes fahren kann.

Strasse in grüner Landschaft.
Legende: Viele Wege führen nach Rom? In diesem Fall braucht es viele Umwege, um von Bethlehem nach Walaja zu gelangen. SRF

Nach zehn Minuten Fahrt schon das erste Hindernis: Ein Eisentor versperrt den Weg. Rishmawi muss wenden. Nicht nur die israelische Armee, sondern auch Siedler sperren Strassen. Rishmawi zeigt auf willkürlich errichtete Blockaden, während er, auf Umwegen Bethlehem verlässt und Richtung Walaja fährt.

Strassenblockade
Legende: Willkürliche Blockaden machen es schwierig, von A nach B zu kommen. SRF

«Geografisch ist die Zweistaatenlösung nicht mehr möglich»

Das palästinensische Dorf ist von Mauern, Stacheldrahtzäunen und israelischen Siedlungen umzingelt. Die Bauern dort kämpfen seit Jahren gegen Landenteignung und die Zerstörung eines ganzen Dorfteils durch die Israeli.

Stacheldrahtzaun
Legende: Das Dorf Walaja ist von Stacheldrahtzäunen umzingelt. SRF

Allein in den letzten zwei Wochen hätten die Israeli sieben Häuser wegen angeblich fehlender Baubewilligungen zerstört, sagt die lokale Holzkünstlerin und Aktivistin Taghrid Arag. Eine Protestnote aus der EU im Februar verhallte ohne Wirkung.

Für Israel gehört ein Teil von Walaja zu «seiner» Hauptstadt Jerusalem. Für Walaja und für die internationale Gemeinschaft ist Ost-Jerusalem besetztes Gebiet und damit Teil eines künftigen palästinensischen Staates.

Zwei Frauen mit Kopftuch im Porträt
Legende: «Die grüne Linie ist das Papier nicht wert sei, auf das sie vor 75 Jahren gezeichnet wurde,» sagt die Holzkünstlerin Taghrid Arag aus Walaja. «Diese Betonmauer ist viereinhalb Kilometer lang und zehn Meter hoch. Sie bauten sie hinter der grünen Linie, auf unserem Land.» Zu diesem Land hätten sie keinen Zugang mehr, sagt Taghrid Arag (rechts). SRF

Zurück im Büro nimmt George Rishmawi resigniert wieder den Atlas hervor. «Im Westjordanland ist eine Zweistaatenlösung nicht mehr möglich. Sie beschlagnahmen, kontrollieren alles …» Er blättert im Atlas bis zur Seite mit der zweiten grünen Linie: derjenigen um den Gazastreifen, der auch als Teil eines palästinensischen Staates vorgesehen wäre.

«Neben Gaza leben, nach allem, was passiert ist? Unmöglich.»

Im Kibbuz Mefalsim hört man die Bombardierung des Gazastreifens deutlich. Der Kibbuz liegt nur knapp anderthalb Kilometer von der Grenze entfernt.

Ein graues Wohnhaus mit Loch im obersten Stockwerk.
Legende: Im Haus, in dem Almog wohnt, klafft im obersten Stockwerk ein Loch. SRF

Der 24-jährige Student Almog ist vor wenigen Tagen in seine Wohnung zurückgezogen. Im Stockwerk darüber klafft ein Loch. Am 7. Oktober stürmten Hamas-Terroristen den Kibbuz. Eine Panzerabwehrgranate traf das Gebäude, in dem Almog wohnt. Er selbst war nicht da. Er hatte Semesterferien.

Hamas-Angriff auf Israel und Gaza-Krieg

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Am 7. Oktober 2023 greift die extremistische Hamas aus dem Gazastreifen Israel an: Sie tötet 1200 Menschen, verletzt 5000 und entführt 240. Noch am Tag des Terrors bombardiert Israel den Gazastreifen. Die Bilanz nach sechs Monaten Krieg: 33'000 Getötete, 75'600 Verletzte, und eine drohende, akute Hungersnot.

Israel hat seine Kriegsziele – die komplette Zerstörung der Hamas und die Befreiung der restlichen circa 100 Geiseln, welche die Hamas am 7. Oktober entführt hat – in dieser Zeit nicht erreicht. Die humanitäre Lage für die Bevölkerung (2.3 Millionen) bezeichnen Hilfswerke als beispiellos. Insgesamt wurden auch fast 200 Mitarbeitende von Hilfsorganisationen getötet. Der internationale Druck auf Israel wächst, mehr Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen und mehr Hilfsgüter in den Gazastreifen zu lassen.

Im Gegensatz zu den umliegenden Gemeinden, wo die Hamas Hunderte von Menschen tötete, hatte der Kibbuz Mefalsim am 7. Oktober viel Glück. Bewaffneten Kibbuzmitgliedern gelang die Verteidigung, ohne eigene Tote und Verletzte.  

Junger Mann vor Laptop.
Legende: Almog studiert Animation am Sapir College. In seiner Kibbuz-Wohnung arbeitet er an einem Dokumentarfilmprojekt über den Hamas-Terror vom 7. Oktober. Während er seinen Computer startet, bebt der Boden von den Einschlägen israelischer Bomben. Er scheint sie kaum wahrzunehmen. «Die Bombardierung stresst mich nicht. Weil sie von unserer Seite kommt.» SRF

Der Schock über den Angriff der Hamas sitzt bei Almog tief. Eine Lösung für die Zukunft sieht Almog nicht, eine Zweistaatenlösung kann er sich nicht vorstellen. «Ich glaube an Koexistenz. Ich habe arabische Freunde. Aber mit Gaza nebenan zu leben, nach allem, was passiert ist: Das ist unmöglich.»

Zuerst müsse man die Hamas loswerden, sagt Almog. Dass dies möglich ist, glaubt er allerdings nicht. «Ich wünschte mir, wir könnten sie loswerden, aber ich glaube nicht daran. Die Hamas hat ja scheinbar schon gewonnen. Sie hat etwas Historisches gemacht. Sie sind wie Mäuse: Du kannst eine töten, aber nie alle. Es ist wie mit Hitler: Er war das Symbol, hatte viele Anhänger. Diese hassen uns über seinen Tod hinaus.»

«Nach dem 7. Oktober wollte ich mehr über beide Seiten erfahren»

Die grosse Mehrheit der israelischen Bevölkerung spricht nur noch von «balagan gadol»- einem grossen Schlamassel, aus dem man nicht mehr herauskommt. Bei der Studentin Toni, 25, hat der 7. Oktober jedoch ein Umdenken ausgelöst. Sie studiert Animation am Sapir College, einer Hochschule, die nur drei Kilometer vom Gazastreifen entfernt liegt.

Die Sirenen, die Raketen, die Luftschutzräume: Sie wurden für die jüdische Studentin bald zur Normalität. Bis zum 7. Oktober. «Plötzlich rief ein Freund in meinem Wohnblock: Die Hamas sind in Sderot! Terroristen! Und wir sahen die Terroristen auf ihren weissen Geländewagen – mitten in der Stadt! Ich kann jetzt noch nicht darüber reden, ohne am ganzen Körper zu zittern. Es fühlt sich noch immer surreal an.»

Mädchen mit kurzen haaren und dickem Pullover
Legende: «Als ich hier ankam, staunte ich: alle paar Meter ein Luftschutzraum! Und trotzdem sind die Raketen aus Gaza manchmal schneller als die Warnsirene. Unsere Klassenzimmer sind deshalb Luftschutzräume. Damit wir im Stress, uns in Sicherheit zu bringen, nicht übereinander fallen.» Toni, 25. SRF

Von der Angst lähmen liess sich die 25-Jährige nicht. Im Gegenteil: Es wurde ihr erst bewusst, dass nichts, was sie für normal gehalten hatte, wirklich normal ist. «Nach dem 7. Oktober besuchte ich ein Seminar über den israelisch-palästinensischen Konflikt. Ich schreibe gerade eine Arbeit darüber. Erst nach dem 7. Oktober hatte ich das Bedürfnis, mehr über beide Seiten zu lernen.»

Ihre Erkenntnis: «Zuerst müssen wir akzeptieren, dass wir Nachbarn haben und wir sollten ihnen den Raum geben für einen eigenen Staat. Das wäre das beste für meine künftigen Kinder und für unsere Zukunft. Es ist sehr schwer, in einer Gesellschaft zu leben, in der es diese Anspannung und einen ständigen Feind gibt. Diesen Feind gibt es aber auch wegen dem, was wir tun. Und ich habe das Gefühl: Es hört nie auf.»

Krieg im Nahen Osten

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Die Konflikte in Israel, im Westjordanland und im Gazastreifen halten an. Hier finden Sie alle unsere Inhalte zum Krieg im Nahen Osten.

Echo der Zeit, 09.04.2024, 18:00 Uhr

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