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Johnson auf Intensivstation Der Leader fehlt

Boris Johnson liegt seit gestern auf der Intensivstation. Er hat seinen Aussenminister beauftragt, die nötigen Regierungsaufgaben für ihn zu übernehmen. Heisst Grossbritanniens Premierminister derzeit damit faktisch Dominic Raab?

Entscheidungen nur noch mit Kabinettsmehrheit

Nein, auch wenn dieser nun viele der Funktionen des Premierministers übernimmt. Doch die Entscheidungsgewalt des Statthalters ist eingeschränkter als die des tatsächlichen Regierungschefs. Regierungsentscheidungen muss nun eine Mehrheit der Minister zustimmen. Das Kabinett als Ganzes trifft also die wichtigen Entscheidungen. Das bedeutet, dass Raab dieses auch nicht einfach nach seinen Wünschen neu bestellen kann.

Die Details der Regierungsmacht des Stellvertreters sind im Königreich übrigens verfassungsrechtlich nicht so detailliert festgehalten wie etwa in den USA, wo automatisch der Vize-Präsident übernimmt. Das Vereinigte Königreich hat zwar Verfassungstexte, verfügt aber nicht über eine eigentliche detaillierte schriftliche Verfassung. Damit bleibt Platz für Interpretationen, auch bezüglich der aktuellen Rolle des Stellvertreters.

Der schwierige Weg aus dem Lockdown

Dominic Raab hat angekündigt, im Moment umzusetzen, was Boris Johnson geplant hatte. Die folgenschwerste der anstehenden Entscheidungen ist jene über eine Fortsetzung des Lockdowns. Diese gilt derzeit bis zum 21. April. Dass die Minister eine Verlängerung ablehnen und Lockerungen beschliessen scheint unwahrscheinlich. Eine Ministermehrheit für eine derart weitreichende Entscheidung während ausgerechnet der Premierminister auf der Intensivstation liegt? Kaum vorstellbar.

Mit dem Entscheid über eine Verlängerung des Lockdowns geht jedoch auch die Frage nach der Exit-Strategie einher. Wie soll der Weg zurück in die Normalität gestaltet werden? Da herrschen im Kabinett unterschiedliche Meinungen. Dennoch eine Strategie zu entwickeln, wird für die britische Regierung in Abwesenheit des Premierministers zur grossen Herausforderung.

Mehr Kollegialität?

Johnson regiert bereits seit über einer Woche vom Krankenbett aus. Das Resultat ist, trotz aller Bemühungen, ein Machtvakuum im Kabinett. Schon seit Beginn der Krise ist der Leistungsausweis der Regierung zudem einigermassen bescheiden. Das hat bereits zu gegenseitigen Vorwürfen geführt.

Zwar könnte der Schock über den Gesundheitszustand Boris Johnsons nun auch im Kabinett für ein Umdenken sorgen und zu mehr Kollegialität führen. Doch von langer Dauer wäre dies wohl kaum.

Es ist typisch für Westminster und die britischen Minister, dass sie einen starken Leader brauchen, der führt und wo nötig einen Minister in die Schranken weist. Viel mehr etwa als dies in einem Regierungssystem wie jenem der Schweiz möglich und nötig ist. Doch dieser Leader fehlt im Moment. Es wäre wenig überraschend, wenn dies früher oder später zu mehr Reibereien und Problemen in der Regierung führte.

Henriette Engbersen

Grossbritannien-Korrespondentin, SRF

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Engbersen ist seit Frühling 2017 Grossbritannien-Korrespondentin von SRF. Sie ist seit 2008 für das Schweizer Fernsehen tätig, zuerst als Ostschweiz-Korrespondentin und später als Redaktorin der «Tagesschau».

Tagesschau, 07.04.2020, 12:45 Uhr

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