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Kein Vertrauen in Berlin Die grosse Enttäuschung über die deutsche Regierung

«Ist das wirklich Deutschland?», fragt der «Spiegel». Die deutsche Regierung erlebt aktuell eine besorgniserregende Erosion des öffentlichen Vertrauens. Denn nach vier Monaten Teil-Shutdown steht Deutschland bei den Inzidenzwerten (anders als bei den Todesfällen) nicht viel besser da als die «nachlässige» Schweiz und läuft nun in eine dritte Pandemiewelle. Doch die Bevölkerung macht nicht mehr mit. Was nun?

Kanzlerfrage nicht entscheidend

Der bürokratische Lockerungsplan wird wahrscheinlich gar nicht richtig zur Anwendung kommen, stattdessen wird der Teil-Shutdown verlängert werden. Die Bevölkerung lässt sich möglicherweise noch einmal zähneknirschend disziplinieren, denn Gesundheit ist der Deutschen höchstes Gut, anders als in der Schweiz. Das ist eine Feststellung, keine Wertung.

Doch das wird politische Folgen haben: Die CDU wird bei den zwei Landtagswahlen am nächsten Sonntag verlieren. Umso mehr als jüngst bekannt wurde, dass sich Unionspolitiker – darunter der stellvertretende Fraktionschef im Bundestag – in der Maskenkrise vor einem Jahr hohe Provisionen bei der Beschaffung gesichert haben. All das wird noch einmal die Kanzlerfrage anfachen. Aber das ist nicht das Entscheidende.

Wie viele Shutdowns erträgt Deutschland?

Viel wichtiger ist das verlorene Vertrauen der Deutschen in ihren Staat. Egal wer an der Spitze steht. Die Beschaffung des Impfstoffs, ein europäisches Projekt unter deutscher Ratspräsidentschaft misslang gründlich. Auf Bundesebene gestaltet sich die Einführung von Schnelltest in diesen Tagen gerade als pannenreiche Peinlichkeit. Und man darf gespannt sein, wie das Impfen läuft, wenn dann einmal genügend Dosen vorhanden sind.

Die deutsche Bürokratie ist wie eine Maschine von Tinguely: Sie genügt sich selbst und ist schlecht geölt. Die Milliardenhilfen fliessen langsam und werden mit der Schrotflinte verteilt. Er hätte im November ein gut laufendes Restaurant kaufen sollen, spottete ein Unternehmer gegenüber SRF, denn durch den Shutdown hätte er kaum Ausgaben gehabt, dafür aber 75 Prozent des Umsatzes vom Staat vergütet erhalten (das wurde inzwischen korrigiert).

Aber wie viele solcher mittelalterlicher Shutdowns überlebt die Wirtschaft noch? Unternehmen, die international tätig sind, haben bessere Chancen; nicht überall ist Shutdown. Wer mit China Handel treibt, ist wieder im Geschäft. Anders die inländische Hotellerie. In Deutschland Ferien machen kann man nicht, aber im Ausland teilweise schon.

Merkels Bilanz neu schreiben

Nach Corona wird man auch die Bilanz von Angela Merkel neu schreiben müssen. Trotz aller Verdienste: nur auf Sicht fahren reicht nicht. Ein Teil-Shutdown ist nur kurzfristig ein probates Mittel. Und es zeigt sich: Merkels Erbe aus 16 Jahren ist auch die Geschichte einer verpassten Digitalisierung.

Nur Kritik zu üben wäre aber verfehlt. Mit ziemlicher Sicherheit wird eine neue Bundesregierung nach der Wahl im Herbst die strukturellen Schwächen Deutschlands angehen. So deutsch sind sie dann doch, die Deutschen.

Peter Voegeli

Italien-Korrespondent

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Peter Voegeli ist seit Januar 2022 Italien-Korrespondent von Radio SRF. Von Rom aus hat er auch den Vatikan, Griechenland und Malta im Blick. Zwischen 2005 und 2011 berichtete er als USA-Korrespondent aus Washington DC. Danach war er während dreieinhalb Jahren Moderator von «Echo der Zeit» und von 2015 bis 2021 Deutschland-Korrespondent in Berlin. Von 1995 bis 2005 arbeitete der Historiker als Korrespondent für Schweizer Printmedien in Bonn und Berlin.

SRF 4 News; 6.3.21; 7 Uhr

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