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Kinderwunsch in Kriegszeiten Ein Geburtenrückgang ist in Russland nicht festzustellen

Die westlichen Sanktionen greifen noch nicht so stark, wie erwartet. Für die meisten Russinnen und Russen ist der Krieg zur Normalität geworden.

Nach Beginn des Grossangriffs Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 war der Moskauer Demograf Alexej Rakscha überzeugt, dass sich wegen der Ungewissheit weniger Paare in Russland für Kinder entscheiden würden.

«Doch es kam nicht dazu», sagt der unabhängige Forscher jetzt. Er sammelt seine Zahlen direkt bei den lokalen Behörden statt bei den zentralen Stellen. Die Geburtenrate sei nur wenig zurückgegangen, sagt Rakscha.

Viel besser als erwartet

Der Befund sagt etwas über das westliche Sanktionsregime aus – und auch über die Stimmung in der Bevölkerung angesichts des Krieges. «Für einen Einbruch der Geburtenrate wären psychologische und ökonomische Faktoren massgeblich gewesen», so Rakscha. «Doch jetzt sehen wir, dass es der russischen Wirtschaft viel besser geht als erwartet.»

Die Sanktionen sind im Alltag noch nicht deutlich spürbar, der Krieg ist schnell zur Normalität geworden. Für Russinnen und Russen geht das Leben weiter – und dazu gehört auch die Fortpflanzung.

Selbst die unbeliebte Mobilmachung im vergangenen Herbst, bei der der Kreml laut eigenen Angaben 300'000 Männer eingezogen hat, hat keinen bedeutenden Rückgang der Geburtenrate verursacht, wie die ersten Zahlen zeigen.

Prämien fürs Kinderkriegen

Russlands Geburtenrate ist zwar tief, aber mit derjenigen in den meisten westlichen Ländern vergleichbar. Seit Jahren kämpft Russland mit einem Bevölkerungsschwund. Das Problem sind vor allem die hohe Sterblichkeit und die niedrige Lebenserwartung.

Kinder mit Gewehr.
Legende: Kinder posieren mit echten Waffen an einem mobilen Rekrutierungsstand in St.Petersburg anlässlich des russischen Nationalfeiertags am vergangenen 12. Juni. Der Kreml versucht mit diversen Mitteln, die Russinnen dazu zu bringen, möglichst viele Kinder zu kriegen. Keystone/Dmitry Lovetsky

Vor diesem Hintergrund versucht der russische Staat, die Geburtenrate anzukurbeln. Ein erfolgreiches Programm mit Muttergeld bei der Geburt des zweiten und dritten Kindes ist im letzten Jahr auf das erste Kind ausgeweitet worden.

Danach machen sich die Folgen des Kriegs allerdings doch bemerkbar: Nach der Reform bleibt für die zweiten und dritten Kinder zu wenig Geld übrig, wie Rakscha feststellt. Und wegen des hohen Staatsdefizits gebe es nicht mehr Geld als bisher für das Geburtenprogramm.

Staatspropaganda für Krieg und Familie

Der Kreml versucht auch mit anderen Mitteln, die Geburtenzahlen zu erhöhen. So nimmt er etwa Bezug auf die patriotische Propaganda der «Spezialoperation».

Ein Video einer Plattform von Abtreibungsgegnern zeigt einen russischen Soldaten an der Front in der Ukraine. Er sagt: «Jetzt ist eine schwierige Zeit, es läuft die Spezialoperation. Darum, liebe Frauen, liebe Jungfamilien: Bewahrt das Leben, das euch der Herrgott gegeben hat.»

Für Demograf Rakscha ist diese Verschmelzung des Kriegs mit Russlands Bevölkerungsproblem kein Zufall. «Ich glaube, der Staat befeuert diesen Diskurs.» Das passe natürlich zum konservativen Kurs des Kremls, habe aber auch mit den schwachen Finanzen zu tun. Ausserdem stellt Rakscha fest: «Auch die Abtreibungsgegner gewinnen in Russland an Boden.»

Er bezweifelt allerdings, dass dies den Bevölkerungsschwund stoppen kann. Langfristig, mit zunehmender Repression und der langsamen Wirkung der Sanktionen, dürfte Russland kaum ein besserer Ort werden, um Kinder grosszuziehen.

Rendez-vous, 15.7.2023, 12:30 Uhr

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