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Klartext der Hochkommissarin «Der UNO-Migrationspakt will nicht Massenmigration fördern»

Ein zentrales Argumente der Gegner des UNO-Migrationspaktes lautet: Der Pakt schreibt ein Recht auf Zuwanderung fest. Tatsächlich tut er das nicht. Doch die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, findet: Eigentlich gibt es dieses Recht bereits. Was Migrationsgegner erst recht mobilisieren dürfte. Wie auch andere Äusserungen der 67-jährigen Chilenin im SRF-Interview.

Michelle Bachelet

UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte

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Michelle Bachelet ist seit 1. September 2018 Hochkommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen. Von 2006 bis 2010 sowie von 2014 bis 2018 war sie Präsidentin Chiles und damit die erste Frau in diesem Amt.

SRF News: Hat jeder Bürger weltweit das Recht, in dem Land zu leben, in dem er will?

Michelle Bachelet: Im neuen UNO-Migrationspakt ist davon nicht die Rede. Aber im Grunde genommen gibt es ein solches Recht durchaus. In der UNO-Menschenrechtsdeklaration, die seit genau 70 Jahren existiert, ist klar von einem Recht jedes Menschen auf Bewegungsfreiheit die Rede.

Dennoch gibt es vielerorts grosse Widerstände, die eher noch zunehmen …

Richtig. Doch in der Geschichte gab es immer Migrationsbewegungen. Auch ich selber bin eine Migrantin. Ich bin die Enkelin eines französischen Zuwanderers. In meinem Land, in Chile, sind einzig die Ureinwohner echte Einheimische. Alle anderen, also die überwiegende Mehrheit, sind im Grunde Zuwanderer. Migranten sind häufig Leute, die einen grossen Beitrag zum Vorankommen einer Gesellschaft und eines Landes leisten.

Nun wird der UNO-Migrationspakt von Migrationsskeptikern als Instrument gesehen, um die Zuwanderung sogar noch kräftig zu fördern …

Falsch. Der Migrationspakt geht von der Realität aus. Migration ist eine Tatsache, sie findet ohnehin statt. Was der Pakt will, ist einzig etwas, das so oder so passiert, in geordnete, legale Bahnen zu lenken. Und der Pakt nimmt sich ausserdem den Ursachen der Migration an. Ein Grossteil der Migration erfolgt nämlich unfreiwillig. Die allermeisten Menschen wollen am liebsten in ihrer Heimat bleiben. Kriege, Klimaerwärmung oder Not zwingen sie jedoch, auszuwandern. Dort müssen wir ansetzen.

Das Ziel besteht darin, dass nur noch jene Menschen aus- und woanders einwandern, die das wirklich wollen.

Das Ziel besteht darin, dass nur noch jene Menschen aus- und woanders einwandern, die das wirklich wollen, und diese das aber frei und regulär tun dürfen. Der UNO-Migrationspakt will ganz bestimmt nicht Leute ermuntern zu migrieren oder gar Massenmigration zu fördern.

Was ist denn aus Ihrer Sicht das Wichtigste, was der Pakt bringt?

Migration ist ein globales Phänomen. Also braucht es eine globale Antwort. Nur wenn alle Staaten hier zusammenarbeiten, schaffen wir es, die illegale Migration zu verhindern und Wanderungsbewegungen in geordnete Bahnen zu lenken. Ohne multilaterale Anstrengungen klappt es unmöglich.

Der Pakt ist aber rechtlich nicht bindend, er stellt sogenanntes «Soft Law» dar. Fühlt sich denn dadurch irgendeine Regierung verpflichtet?

Solche UNO-Pakte sind fast immer nur politisch bindend. Aber immerhin haben sich die Staaten in langen Verhandlungen darauf verständigt. Sie müssten sich also sich selber gegenüber verpflichtet fühlen, die Bestimmungen nun auch durchzusetzen. Gewiss, der Pakt ist nicht perfekt, aber er ist ziemlich umfassend. Und er ist durchaus moralisch verpflichtend. Es geht nicht zuletzt darum, zu bekräftigen, dass die Menschenrechte für jedermann gelten, auch für Migranten. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit.

Doch gerade diese Menschenrechte sind seit einigen Jahren gewaltig unter Druck …

Ja, derzeit hat es der Multilateralismus generell schwer, und damit auch die UNO-Menschenrechtsdeklaration. Einige Regierungen kämpfen sehr aktiv gegen die Menschenrechte. Die Antwort darauf kann nur darin bestehen: Wenn manche gegen die Menschenrechte kämpfen, müssen wir umso energischer für sie kämpfen und sie verteidigen.

Menschenrechte gelten für jedermann, auch für Migranten.

Unser Ziel muss sein – gerade aus Anlass des 70. Geburtstags der Menschenrechtsdeklaration –, dass sich mehr und mehr Länder neu auf die Menschenrechte verpflichten. Grundsätzlich ist jede Deklaration nur ein Stück Papier. Sie bleibt ein Stück Papier, wenn wir einfach nichts tun, wenn wir uns nicht dafür einsetzen, unermüdlich und immer wieder.

Ich will auch die Regierungen davon überzeugen, dass es nicht nur moralisch richtig ist, sich für Menschenrechte einzusetzen, sondern dass es überdies klug ist. Denn Staaten, die ihre Bürger ernstnehmen, die ihnen Rechte gewähren, sind langfristig erfolgreicher.

Verstehen Sie, warum etliche Länder, die anfangs den UNO-Migrationspakt guthiessen, sich plötzlich davon distanzieren und ihn ablehnen?

Das enttäuscht mich. Und ich habe Mühe zu verstehen, warum Länder, die sich in den Verhandlungen sehr aktiv und sehr erfolgreich einbrachten, plötzlich nicht mitmachen. Ich vermute, es hat primär mit innenpolitischem Druck zu tun, teils mit bevorstehenden Wahlen.

Politiker schauen sich dann Meinungsumfragen an, die eine zuwanderungsskeptische oder gar zuwanderungsfeindliche Stimmung in der Bevölkerung ausdrücken – und dann knicken Regierungen ein. Ich bin aber überzeugt, dass vielerorts mit der Zeit erkannt werden wird, dass der Migrationspakt brauchbare Antworten liefert, um mit der Tatsache der Migration vernünftig umzugehen.

Ich bin deshalb sicher: Sie werden noch dazustossen, die Länder, die jetzt noch abseits stehen. Es führt kein Weg daran vorbei, mit etwas umzugehen lernen, das eine Realität ist, das es in der Geschichte der Menschheit immer gab und das es auch in Zukunft immer geben wird.

Wie sehen Sie den Fall der Schweiz? Der UNO-Botschafter Jürg Lauber spielte als Ko-Moderator des ganzen Verhandlungsprozesses eine Schlüsselrolle. Die Schweiz brachte sich entsprechend stark ein, aber ist jetzt trotzdem nicht dabei auf dem Gipfel in Marrakesch.

Jedes Land entscheidet souverän. Aber ich zähle die Schweiz nicht zu den Ländern, die Nein sagen zum Migrationspakt. Oder die einen Beitritt für immer ausschliessen. Die Schweiz gehört zu jenen, die zuerst eine eingehende Debatte im Parlament führen wollen, bevor sie zustimmen. Also lasst uns abwarten, was in der Schweiz passiert. Ich bin überzeugt: Es liegt im Interesse jedes Landes, am Ende dabei zu sein.

Das Gespräch führte Fredy Gsteiger.

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